Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Fernando wippte unwohl vor sich hin, verlagerte sein Gewicht von der einen auf die andere Sohle. Der Vollmond beschien den nebligen, alten Friedhof und er bereute, ausgerechnet zu diesem Treffpunkt gehen zu müssen. Er hatte erwartet, im Dunkeln unbeobachtbar zu bleiben, stattdessen war es beinahe taghell. „Komm schon, komm schon“, zischte er ungeduldig und trommelte mit seinen Fingern auf den Oberschenkeln. Es war sein erstes Mal, die Nervosität wurde ihm schier unerträglich. Selbstverständlich, jeder fängt unten an, aber der Zwanzigjährige wünschte sich derzeit nur, die Sache hinter sich zu bringen, sehnte sich gar danach zurück, als kleiner Junge auf der Dorfbank an seinem Eis am Stiel zu lecken. „Nein“, ermahnte er sich, dieses Leben lag hinter ihm, sein Schicksal hatte ihn eingeholt. Er musste an diesem schaurigen Ort in die Fußstapfen seiner Familie treten, so wie bereits sein Vater, sein Großvater, sein … Ein Rascheln in einem nahen Busch riss ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn zusammenfahren. „Scheiße, was …?“ Fernandos Herzschlag raste, als er sich auf das Gehölz hinzubewegte, er tastete in seiner Jackentasche nach einem Gegensand, den er zu seiner Verteidigung benutzen könnte. Erstaunt förderte er eine Gabel zutage, die er gestern in einem Diner hatte mitgehen lassen. Mangels besserer Optionen schlich er mit gezücktem Besteck zur Hecke. Es raschelte erneut. Da, plötzlich, huschte ein Eichhörnchen aus dem Unterholz, ehe es einen Baumstamm hochkletterte und im nebelgekrönten Blättergewirr entschwand. Nachdem er einige Sekunden verharrte, brach Fernando in Gelächter aus, das weit über die Grabreihen schallte.
„Ich will verdammt sein, sogar ein blödes Eichhörnchen jagt mir einen Schrecken ein“, murrte er und schlenderte, nun wesentlich gelassener, auf eine Parkbank zu. „Wenn das so weitergeht, kann ich genauso gut …“
„Verdammt sein zu wollen ist nie eine gute Idee“, ertönte hinter ihm eine tiefe Stimme und er fuhr abermals erschrocken hoch.
„Fuck!“, kreischte er, wirbelte herum und starrte auf die in einen schwarzen Kapuzenmantel gekleidete Gestalt. „Wie bist du dermaßen lautlos an mich herangekommen?“
Der andere gab ein amüsiertes Schnauben von sich, bevor er ruhig entgegnete: „Das ist ein Rätsel, mit dem du dich die nächsten Tage selbst beschäftigen darfst.“ Sogleich wurde er ernst. „Du bist Fernando?“
„Ja“, bestätigte der Bursche zittrig; dieser Fremde war in der Tat eine einschüchternde Erscheinung, nahezu zwei Meter hoch, das Gesicht blieb im Schatten der Kapuze anonym.
„Du bist willens, den Weg deiner Ahnen einzuschlagen?“, bohrte er weiter.
Fernando schluckte, dem Ernst der Situation bewusst. Er nahm sich einige Sekunden, die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen, die im Nebel verschwindenden Grabsteine, der Vollmond, das leise Rauschen des Windes. „Ja.“
„Du weißt um die Verantwortung, die auf deinen Schultern lastet?“
„Ja.“ Eigentlich war sich Fernando unsicher, ob er wirklich begriff, was auf ihn zukam, denn viel hatten ihm weder sein Großvater noch sein Vater, Gott hab sie selig, mitgeteilt. Schließlich war das Ziel eines Geheimbundes, geheim zu sein, selbst die nächsten Verwandten wurden nicht von der Schweigepflicht verschont. Ein Kribbeln lief Fernandos Rücken hinunter, er stand den Antworten auf all seine Fragen so nahe wie noch nie. „Ja, definitiv“, bekräftigte er.
„Hast du dabei, worum ich dich gebeten habe?“ Der Unbekannte war durch nichts aus dem Konzept zu bringen.
„Ja“, haspelte er, stellte seinen Rucksack auf den Boden und bemerkte dabei, dass er noch die Gabel in der Hand hielt. Beschämt steckte er sie weg, öffnete den Ranzen und brachte vorsichtig ein Straußenei zum Vorschein. „Bitte.“ Feierlich reichte er es dem Hünen und Fernando ergriff die Gelegenheit, seine Neugier zu stillen: „Für was ist das Ei?“ Er malte sich unsäglich düstere Rituale aus, bei denen ein Straußenei eine Rolle spielte.
„Frühstück“, erwiderte der andere trocken. „Für mich, versteht sich.“
„Ah, gut.“ Egal, wie sehr Fernando seine Enttäuschung verstecken wollte, er hatte auf etwas Dramatischeres, Aufregenderes oder wenigstens kulinarisch Ausgefeilteres gehofft. Also wechselte er rasch das Thema: „Okay, was jetzt?“
Der Fremde verstaute das Ei unter seinem Kapuzenmantel. „Immer mit der Ruhe, Jungchen. Wir sind eine Organisation von Würde und Tradition, kein Fußballklub.“
Betreten blickte Fernando zu Boden und verstummte. Es war klüger, das Ritual einfach über sich ergehen zu lassen, seine Ungeduld war fehl am Platz. Für eine geschlagene Minute herrschte Schweigen und er war froh, sah man im Mondlicht nicht, wie sein Kopf rot angelaufen war. Schlussendlich meinte der Großgewachsene ergriffen: „Gut. Triff mich morgen hier um dieselbe Zeit und bring mir einen Tagetesstrauß mit. Alle Farben.“
„Woher soll ich im November Blumen …“ Fernando unterbrach sich mit einem demütigen Schlucken. „Gut.“
„Ehe du wieder nachbohrst, für was wir den brauchen“, begann der Fremde, „Anwärter werden so geprüft, das will die Konvention. Und unserem Großmeister gefallen Tagetes.“
„Okay“, murmelte Fernando kleinlaut. „Wie geht es danach weiter?“
„Formulare, zahnärztliche Untersuchung, Blutgruppenabklärung, Mitgliedschaftsvertrag, der übliche Papierkram halt.“ Wenigstens klang er nun wohlgesonnen.
„Dann werde ich Mitglied und erfahre alles, was der Bund weiß? Das gesamte Wissen der Menschheit?“
„Vielleicht.“ Kryptisch ergänzte er: „Du wirst auf den dir bestimmten Weg entsandt.“ Damit wandte sich der mysteriöse Mann ab und schritt in den Nebel davon, der von seinem Mantel in leicht in Bewegung geriet. Fernando blieb stehen, schaute ihm hinterher und widerstand dem Drang, ihm zu folgen. „Immer mit der Ruhe“, redete er sich selbst gut zu, den Rat des Meisters wiederholend. „Tradition ist wichtig.“ Niemals hätte er sich träumen lassen, dass es derart schwer sei, ein Vampir zu werden, geschweige denn, dass man dafür Tagetes bräuchte.