Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Das Handy klingelte, Alex brummte erschöpft und legte die Gabel beiseite. Seine Mutter hatte seit jeher die Angewohnheit, ihn zu stören, wenn er vor dem Abendessen saß. Gestern Abend war sie von ihrer Kreuzfahrt mit Tante Olga heimgekommen, hatte also bestimmt viel zu erzählen. In Erwartung eines mehrstündigen Gesprächs, zögerte er einige Sekunden, ehe er sich erhob und zur Kommode mit der Ladestation ging.
„Hey, Mum. Wie war die Reis…“
„Alex, komm schnell! Pa ist vollends übergeschnappt“, zischte sie aufgebracht. Das Rentnerdasein tat seinem Vater nicht gut, denn anstelle davon den Ruhestand im Urlaub und bei gemütlichen Grillfesten zu genießen, dachte er sich regelmäßig neuen Blödsinn aus. Um die Langeweile zu bekämpfen hatte er kürzlich den gesamten Garten umgegraben und dabei Mums Rosenbeete plattgemacht. Alex schnaufte.
„Was hat er angestellt?“
„Das glaubst du erst, wenn du es siehst. Komm bitte sofort.“
„Ma, kann das warten, bis ich gegessen habe, ich hatte einen langen …“
„Sofort, Alex!“ Erneut seufzte er und versicherte ihr dann, sich sogleich auf den Weg zu machen.
„Bin unterwegs.“ Irgendwann würden die Renterfaxen seines Vaters noch mit Mord und Totschlag im Vorstadtparadies enden, sinnierte er teils genervt, teils amüsiert und schaute sehnsüchtig auf sein dampfendes Risotto, bevor er sich seine Jacke schnappte.
„Gottseidank, Alex, du bist da“, begrüßte ihn seine Mutter. Ihn durch die Eingangstür bugsierend fluchte sie: „Wenn ich das gewusst hätte, Alex, du kannst dir nicht vorstellen, was dein Idiot von Vater vorhat! Ich schwöre, seinen Verstand hat er gleich mit dem Firmenschlüssel abgegeben!“
„Ach, so schlimm wird’s nicht sein.“ Er lächelte sie aufmunternd an und bat sie, erstmal Kaffee aufzusetzen, während er Pa im Garten suchte.
„Mach du das, aber ich hab’s dir gesagt, Junge, der Typ tickt nicht mehr richtig!“ Kopfschüttelnd verschwand sie im Durchgang zur Küche.
„Pa? Pa, bist du hier draußen?“ Alex hielt entsetzt inne, als er die elterliche Veranda betrat. Tatsächlich hatte sich so einiges geändert: Von Mutters Rosen war gerademal ein kümmerliches Büschel vor der Terrasse übrig, der Rasen glich einem traurigen Trampelpfad und statt Schaukel und Pool dominierte nun ein massives Gewächshaus mit Milchglasscheiben den Garten. Mitten auf dem Dach des Glasgebäudes summte ein Kasten vor sich hin. Die Verwandlung des Spielplatzes aus seiner Kindheit bestaunend, schlenderte er die paar Stufen hinunter und rief: „Pa, wo zum Teufel steckst du? Pa!“
„Moment“, tönte es irgendwoher, da öffnete sich eine Tür und der ehemalige Bankier huschte ins Freie. „Alex, ich habe heute gar nicht mit dir gerechnet.“
„Wie siehst du denn aus?“, frotzelte der Sohn seinen Vater, dessen hagere Waden aus einem dunkelgrünen, kurzen Overall herauslugten und dessen Gesicht hinter einer Art Gasmaske verborgen war.
„Meine Gartenuniform“, gab der Neurentner lapidar zurück und steckte seine Harke in einen Kieshaufen. „Was willst du?“
„Auch schön, dich zu sehen, Pa.“ Eigentlich hatte er sich längst daran gewöhnt, dass sein alter Herr kein besonders höflicher Mensch war, wobei er erwartet hatte, der Miesepeter taue nach der Pensionierung ein wenig auf. „Was soll der Aufzug? Willst du die Tomaten erschrecken?“
„Womit?“, fragte er und griff sich verwundert ans Kinn, woraufhin ihm dämmerte: „Ach, das.“ Er zog die Maske aus und erläuterte: „Zum Schutz.“ Mit einigen großen Schritten ging er zu seinem Sohn, klopfte diesem auf die Schulter und steckte die Hände in die Taschen seiner Arbeitsschürze. „Jetzt raus damit, was willst du?“
„Mum hat mich herbeordert. Sie meint, du seist übergeschnappt.“ Schmunzelnd schob Alexander Senior ihn in Richtung des Gewächshauses.
„So, meint sie das?“ Er lachte auf und blieb vor der Glastür stehen. „Dabei hat sie mich überhaupt erst auf die Idee gebracht.“ Damit drückte er die Klinke und gewährte Alex Einblick ins Innere seines neuesten Bauprojekts.
„Sind das …“, begann er entgeistert und inhalierte den impertinenten Geruch. „Pa, sind das … Ist das dein Ernst?!“
„Natürlich. Wunderbar, nicht?“
„Aha.“ Es hatte ihm die Sprache verschlagen. Der stets geschwätzige Alex stand mit offenem Mund da und starrte perplex auf gut hundertzwanzig Quadratmeter blanken Irrsinn. „Und du sagst, Mum habe dich auf die Idee gebracht?“, brachte er schließlich ungläubig hervor.
„Ja, hat sie. Ist sie nicht ein Goldschatz?“
„M-hm“, tönte Alex gegen die Fassungslosigkeit anblinzelnd. „M-hm, das kauf ich dir nicht ab, Pa.“
„Doch, doch, hat sie“, verteidigte sich der Senior und flanierte zufrieden grinsend zwischen den Pflanzreihen hindurch. „Sie sagte mir sogar ein paarmal, ich solle mich auf den Ruhestand freuen, weil ich dann endlich machen kann, worauf ich schon mein ganzes Leben Lust hatte. Ich sollte mir ein Hobby zulegen, sowas halt.“
„Okay.“ Den Schock langsam verarbeitend beugte Alex sich vor und begutachtete einige Stecklinge, die wenige Zentimeter aus der Erde lugten. Der Blattform nach zu urteilen sollten daraus dieselben Stauden wachsen, welche im hinteren Teil des Gewächshauses bereits meterhoch wucherten. „Okay, Pa. Aber ich bin mir ziemlich sicher, sie hat damit gemeint, du sollst mal verreisen, mit dem Malen anfangen oder Campen gehen und nicht … Naja, das alles hier!“ Der Rentner gluckste amüsiert und deutete in den gut bewachsenen Raum.
„Junge, wie du siehst, bin ich eher der Indoor- statt Outdoor-Typ.“
„M-hm“, murmelte der Sohn ächzend und bereute es flugs, tief durchgeatmet zu haben. „Und du willst das alles rauchen?“
„Quatsch, ich bin doch kein Kiffer“, ereiferte sich der Vater und funkelte ihn böse an. „Für was hältst du mich?“
„Oh pardon, der Herr. Wie konnte ich bloß darauf kommen, dass mein Vater, der ein riesen Gewächshaus vollgestopft mit Ganja im Garten stehen hat, ein Kiffer sein könnte.“
„Sarkasmus ist die niedrigste Form von Humor“, erwiderte der andere trocken und erklärte: „Ich bin Hanfbauer.“
„Mum wird dir im Schlaf einen Dolch in die Brust rammen, das weißt du, ja?“
„Ich bezweifle es. Deine Mum schläft in letzter Zeit sehr gut. Sie mag meinen Spezialtee.“
„Scheiße, Papa! Du spinnst echt“, empörte sich Alex gespielt wütend und bewunderte gleichzeitig den Blütenstand einer prächtig gediehenen Pflanze.
„Bleibst du noch ein Weilchen?“
„Ich wollte zurück zu meinem Risotto, sofern Mum mich lässt.“
„Iwo, bleib zum Abendessen. Ich kann dich brauchen.“ Die ungewöhnlich freundliche Geste machte Alex misstrauisch.
„Wieso?“
„Um halb Zehn kommen die ersten Käufer vorbei und es kann nicht schaden, einen Bodyguard dabeizuhaben.“
„Krieg ich was ab?“
„Du bekommst Familienrabatt.“ Auch im Ruhestand blieb Alexander Senior ein hervorragender Geschäftsmann.