Diese Story ist auch als Hörgeschichte und in einem Sammelband erschienen.
Diese Geschichte spielt im erweiterten Universum der „Promise“-Reihe.
Es war eng und stickig in der Zwischenwand, überall war sich langsam zersetzendes Isolationsmaterial zu sehen, alte elektrische Leitungen, die noch nicht in Kanälen verlegt worden waren und eine dicke Röhre für Fernwärme, die von Kondenswasser bedeckt war. Anaata machte weder die Hitze noch die beengten Platzverhältnisse etwas aus, während sie sich zwischen den Leitungen und dem Bauschaum hindurchquetschte. Sie fühlte sich wie in einer annähernd zweidimensionalen Scherenschnittwelt, in der es, genau wie auf dem gefalteten Blatt Papier, sich immer wiederholende Löcher und Durchgänge gab; kam man durchs erste, würde man sich auch durch die anderen, identischen quetschen können. Hier drinnen, in der Zwischenwand ihres veralteten Wohnblocks in Inew City, bestand die Welt aus Mustern und Regeln, sie war logisch. Hier war ihr Reich, in dem sich das vierzehnjährige Mädchen mit dem Geschick eines Wasserläufers durch das, eigentlich nicht für Menschen bestimme, Innenleben des Gebäudes bewegen konnte. Sie gab ein leises genervtes Knurren von sich, als sie aus dem Apartment der Whelan-Familie das laute Schmatzen der kleinen Kinder bei Tisch hören konnte, gefolgt von dem Schreien des Babys. Hastig schob sie sich weiter durch die Zwischenwand und langte nach kurzer Zeit und einer Begegnung mit einer aufgescheuchten Maus hinter dem Wohnzimmer der Soungs an, wo angenehme Ruhe herrschte. Offenbar saß der Großvater mal wieder auf der Couch und las in einen Roman, wie fast jeden Nachmittag. Anaata fragte sich, was die Leute wohl von ihr denken würden, wenn sie wüssten, dass das Mädchen hinter ihren Wänden herumkroch und viel von ihrem Leben mitbekam, wohl mehr, als ihnen lieb war. Der Gedanke amüsierte sie für einige Augenblicke, doch dann wandte sie sich wieder ihrer Aufgabe zu. Sie wollte hinter das Apartment der Parks gelangen, diese Familie interessierte sie am meisten, denn schließlich waren es ihre Adoptiveltern.
Auf ihrem Weg durch den Staub, der sie in der Nase kitzelte, konnte sie das vertraute Emailschild erkennen, das vor offen verlegten elektrischen Leitungen warnen sollte, dennoch fühlte sie sich hier geborgen. Hier war sie wirklich sicher, in ihrer Scherenschnittwelt, wie sie ihr Refugium hinter den Wänden nannte, das weitab von der Realität lag und ihr zugleich erlaubte, dichter an die Menschen heranzukommen, als sie es sich sonst jemals gewagt hätte. Sie hatte mehr Angst vor den Menschen da draußen, als von der Möglichkeit, hier hinter der Wand an einem elektrischen Schlag zu sterben, denn in ihrem Reich waren die Dinge nicht real, hier hatte sie die Kontrolle. Seit sie nach einer Odyssee durch mehrere Pflegefamilien endlich bei den Parks gelandet war, hatte sich ihre Lage nicht wirklich verbessert. Ihr Adoptivvater war ein Dockarbeiter am Raumhafen der Stadt und ein starker Trinker, ganz ohne Träume und Ambitionen. Die Adoptivmutter dagegen war aggressiv und sammelte Anzeigen wegen häuslicher Gewalt wie andere Leute Hologramm-Bildchen, seit Anaata bei den Parks war, hatte sie sie noch nie einem Beruf nachgehen sehen. Doch sie störte sich nicht besonders an ihrer aktuellen Familie, sie hatte ihr Interesse für menschliche Probleme nie wirklich entwickelt in der Zeit, nachdem sie als kleines Kind von Menschenhändlern verkauft worden war und schließlich nach mehreren Zwischenstationen auf diesem vergleichsweise wohlhabenden Planeten angelangt war. Reisen in Kryogenikboxen hatten auch ihre Vorteile, man bekam nicht viel von den oft rüpelhaften Menschenhändlern mit, wenn man die meiste Zeit eingefroren war.
Und jetzt verbrachte Anaata ihre freien Nachmittage damit, durch den Keller in die Zwischenwand des Wohnblocks einzusteigen, hoch und runter, kreuz und quer zu kraxeln und zu sehen, was sie finden würde.
Bald war sie bei der Wohnung der Familie Park angelangt, die dem dritten Blatt in ihrer Scherenschnittwelt entsprach und offenbar unterhielten sich ihre Adoptiveltern gerade angeregt. Anaata machte es sich auf einem rostigen Eisenträger bequem, legte ein Ohr an die Innenseite der Wand und lauschte.
„Nein, die Göre ist unerträglich, die träumt nur herum und versteht nichts, genau wie du“, fuhr die Mutter mit gehässiger Stimme den Vater an.
„Also so schlimm wie sie bin ich nicht“, lallte er. „Ich sitze nicht nur vor meinem Databook und tue so, als würde ich lernen, ich bringe das Geld nach Hause.“
„Trotzdem war es eine Verschwendung in sie zu investieren“, rief sie wütend. „Bisher hat sie uns nur Unsummen gekostet und nichts gebracht.“
„Was willst du, so sind Kinder nun mal“, entgegnete er gelangweilt, gefolgt von dem Geräusch einer Flasche, die geöffnet wurde. Anaata hatte schon viel üblere Streitereien mitgehört, also lehnte sie sich noch immer ziemlich entspannt zurück und lauschte dem, was kommen mochte. Sie zuckte etwas zusammen, als sie den lauten Knall hören konnte, als die Mutter ihm eine Ohrfeige gab: „Verdammte Scheiße, das ist mir doch egal! Seit sie in dem Laden einen Korb Mandarinen gestohlen hat, haben die Bullen uns schon wieder auf dem Kieker. Andauernd klaut sie die blödesten Sachen und ich kriege dann eine Anzeige vom Jugendamt, wenn sie erwischt wird und die Deppen ein paar blaue Flecken an ihr sehen! Kind hin oder her, ich möchte sie am liebsten auf ein Schiff zum nächsten Planeten setzen und mich nicht mehr darum tun. Die hört einen ja nicht mal zu, wenn man spricht.“
„Wie auch immer“, stammelte ihr Vater, gefolgt von üblem Schluckauf. „Mir egal, wenn sie nicht mehr da ist. Aber sieh zu, dass sie etwas Vernünftiges lernt, immerhin werde ich nicht ewig jung sein und arbeiten können und dann brauchen wir sie. Deswegen haben wir das Gör ja erst zu uns geholt. Bisher hat sie sich nur querbeet alles angeschaut, was ihr gerade gefallen hat.“
Anaata seufzte und nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die sie jeweils auf ihre Ausflüge durch die Scherenschnittwelt mitnahm. Sie wusste bereits, dass ihre Adoptiveltern sie nach dem Sommerferien auf ein richtiges Internat schicken wollten, schließlich wurde ein solche Institution vom Staat finanziert, doch sie freute sich darauf. Sie hatte nur verstanden, dass ihre momentane Familie sie mühsam und anstrengend fand, was für sie sehr ironisch war, da sie ihre Adoptiveltern genauso wenig erdulden wollte. Doch die Worte ihres Adoptivvaters gingen ihr noch immer durch den Kopf, früher oder später musste sie eine Karriere finden, mit der sie sich ernähren und auf eigenen Beinen stehen konnte und auch, wenn sie sich auf die Schauspielschule freute, die Vorstellung auf der Bühne zu stehen, fand sie weniger berauschend. Trotzdem war sie sich sicher, dass sich der Unterricht ausbezahlen würde. Schließlich waren ihre schauspielerischen Fähigkeiten außerordentlich nützlich, wenn es darum ging den Leuten ein A für ein O vorzugeben und sie so auszunehmen. Die Stimme der Mutter riss sie aus ihren Gedanken und sie hörte auf, mit ihrem staubbedeckten Haar zu spielen: „Welche sinnvollen Fähigkeiten hat denn diese Göre schon, um einen guten Job machen zu können? Sie träumt ständig rum, stiehlt im Laden Sachen und versteckt sich dann in irgendwelchen Nischen und wer weiß wo sonst noch. Die wird früher oder später eine echte Verbrecherin werden und das war’s dann mit dem Kindergeld.“
Anaata erstarrte und hätte nach einigen Sekunden beinahe vor Begeisterung laut ausgerufen, ja sie hätte gar ihre Adoptivmutter für diese Aussage umarmt. Das Mädchen hatte begriffen, was ihre Gabe war und wo ihre Fähigkeiten lagen. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen robbte Anaata zurück durch die Wand, denn sie wusste jetzt, sie würde die beste Einbrecherin der ganzen Galaxis werden.