Das Fenster gab den Blick frei auf eine saftig grüne Wiese, auf der mehrere Kühe weideten. Die leicht hügelige Landschaft wurde von einer dicken, grauen Nebeldecke eingehüllt, die nur wenig des spätnachmittäglichen Herbstlichts hereinließ. Ein Zug der S 55 tuckerte gemächlich durch die nur dünn besiedelte Landschaft, ganz so als schien er den Begriff „S-Bahn“ verhöhnen zu wollen. Hier draußen, in der Umgebung von Niederhasli, Oberglatt und Niederweningen, im Niemandsland der fantasielosen Ortsnamen, der fast schon unangenehm grünen Wiesen und der Schlafdörfer, lag der Bauernhof. Der Hof, auf dem ich nun arbeitete, wenn man das denn so nennen wollte, und aus dessen Küche ich nun den Blick über die Gegend schweifen ließ und meinen Gedanken nachhing. Das versprochene Schlaraffenland, ging es mir nicht ohne einen sarkastischen Unterton durch den Kopf – nein, ich wollte wirklich nicht hier sein.
Ich sah mich in dem rustikal eingerichteten Raum mit der niederen und schon fast beengenden Decke um, bevor ich den Eistee, den ich früher am Tag gebraut hatte, aus dem Kühlschrank holte und mir davon in ein Glas einschenkte. Für einige Augenblicke sah ich bloß der Flüssigkeit zu, wie sie sich im Glas drehte und dabei immer langsamer wurde, bis sie schließlich fast ganz stillstand.
Noch vor wenigen Tagen war ich in dem Raum mit den vielen Aktenordnern in hohen Regalen gesessen, der vom kalten Licht einiger nackter Leuchtstoffröhren erhellt wurde, mir gegenüber der Direktor der Strafanstalt. Er tippte mit seiner rechten, leicht arthritischen Hand grobmotorisch auf das Deckblatt meines Dossiers, das er wohl aus einem der Ordner geholt hatte, während er zu mir aufblickte. „Nun, Steiger, wie Sie wissen, kommen Sie heute hier raus“, begann er. Der alte Mann, wie ihn alle nannten, mochte es lange Reden zu halten, beinahe schon epische Monologe. Jedenfalls war seine vor Optimismus strotzende Ansprache darauf hinausgelaufen, dass ich nun eine Chance hätte und diese nicht vertun sollte. Es spiele keine Rolle mehr, was ich getan hatte, meine Strafe war abgesessen und der Staat hatte mir vergeben; wenn man das denn so nennen wollte. Der Direktor schien mich wirklich zu mögen, denn er hatte mir diesen vorübergehenden Job angeboten, „zur Resozialisierung“, wie er sagte. Eigentlich musste ich bloß auf dem Bauernhof den Haushalt schmeißen, während der Bauer und die Bäuerin ihrer Arbeit nachgingen. Ihre Kinder waren schon ausgezogen, soweit ich wusste, ohne weiter mit ihren Eltern Kontakt zu pflegen.
In Kürze würde ich das Abendessen zubereiten müssen, denn der Bauer würde wohl in einer halben Stunde mit dem Traktor vorfahren. Tatsächlich war ich anfangs optimistisch, beinahe schon euphorisch, mit meinem leichten Gepäck auf dem Hof eingetroffen, um mein neues Leben zu beginnen, um eine Linie zu ziehen, die meinen Neuanfang zu markieren. Nach all den Therapiesitzungen und Unterrichtsstunden zur Fortbildung im Gefängnis klang Haushalten wie eine willkommene Abwechslung, richtige körperliche Arbeit, die nicht in einer Gefängniswerkstatt vollbracht werden müsste. Ich hatte nicht viel über meine Gastfamilie gewusst, bloß dass der Bauer immer Ex-Sträflinge aus verschiedensten Anstalten zur Haushaltsführung einstellte, entweder um ihnen den Einstieg ins Berufsleben zu erleichtern, oder weil sie billig arbeiteten.
Nun, es mag vielleicht abgedroschen kriegen, doch anfangs war ich froh, ja gar dankbar, gewesen für die Chance, welche ich erhalten hatte. Ich war ehrlich davon überzeugt gewesen, nun ein neues Leben anfangen zu wollen, ein ehrliches Leben unter hart arbeitenden Bürgern, die vom Einfamilienhaus träumten und ein Konto bei der Lokalbank hatten. Doch in dem knappen Monat, welchen ich auf diesem Bauernhof verbracht hatte, hatte sich das alles schlagartig geändert. Diese Familie hatte mir beweisen, dass es so etwas wie „gute Menschen“ wohl kaum geben konnte, oder wenn es sie gab, dann waren sie wohl die Letzten, von denen es ihre Mitmenschen vermuteten. Egal, wie ich es drehte und wendete, ich konnte an der Idylle der hart arbeitenden und ehrlichen Familie kein gutes Haar lassen: Er schlug sie, sie trank viel und hatte ihn die Kinder schlagen lassen, als sie noch klein waren und nie etwas dagegen unternommen, dafür hatte sie dann später auch die Kinder geschlagen, die wiederum die Tiere gequält hatten. Das alles hatte ich nicht etwa herausgefunden, weil ich geschnüffelt hätte, sie gaben sich nicht mal die Mühe, es zu verbergen – er prahlte mit seinen Taten und sie erzählte von ihren Tagen als Mutter, wenn sie betrunken genug war. Wer würde schon den Worten von Ex-Sträflingen glauben, welche die einzige Familie anschwärzten, die sie aufnehmen wollte? Mir war rasch aufgefallen, dass ich bloß für die Tiere Mitleid empfinden konnte, die dicht gedrängt in dem schmuddeligen Stall standen, der so stark nach ihren Exkrementen roch, dass ich das einzige Mal, als ich hereinzugehen versuchte, beinahe bewusstlos geworden wäre.
Nein, für mich war der Fall klar: Ich war zwar auf meine eigene Art krank und monströs, mit einem bizarren Ehrgefühl und einer diagnostizierten Persönlichkeitsstörung, doch diese Leute, die guten Bürger, waren schlimmer. Und so, wie ich den über Jahre hinweg antrainierten Respekt für die Gesellschaft innert eines Monats wieder verloren hatte, so, wie ich zu meiner überheblichen Verachtung zurückgefunden hatte, genau so würde ich auch diese Sache beenden: Mit einem Schlag. Ich hatte das Gefühl, als ob ein feines Lächeln um meine Lippen spielte, während ich mich gemütlich erhob, zum dem Küchenschrank ging und die Tollkirschen hervorholte, die ich vor kurzem dort versteckt hatte. Faszinierend, was alles in dem Gebüsch am Waldrand wuchs, sinnierte ich. Ja, mein Optimismus war endlich zurückgekehrt, bereit, mich aus der gleichmäßigen grün-grauen Einöde des Oberlands zu befreien, die sich bereits in meinem Verstand ausgebreitet zu haben schien.
„Willkommen im Schlaraffenland“, murmelte ich, während ich damit begann, den Kirschkuchen zuzubereiten.