Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Geschichte spielt im erweiterten Universum „Wissen ist Macht“.
„Hach, was für ein schöner Tag“, frohlockte Melissa, als sie die Fensterläden aufmachte und auf die verschneite Morgenlandschaft blickte. „Beinahe idyllisch.“
Alexander, ihr Mann, streckte sich ausgiebig und strich sich über den Bart. „Hauptsache, wir haben reichlich zu essen und Brennholz.“ Damit schlenderte er ins Badezimmer, um sich frischzumachen.
„Was für ein Morgenmuffel“, kicherte Melissa und stellte die Tassen für das Frühstück auf den Tisch. Die Dielen ächzten unter ihren Schritten und insgeheim fragte sie sich, ob das am Alter des Fußbodens lag, oder sie zugenommen hatte – zu dumm, gab es keine Waage. Routiniert stapelte sie Holz in den Ofen, entzündete ein Streichholz und seufzte: „Ein Generator wäre nett.“ Sie beobachtete schweigend, wie die Flammen Halt fassten und um sich griffen, bis es im Ofen prasselte, schließlich murmelte sie: „Na, immerhin haben wir Kaffee, das ist auch nicht zu verachten. Doch für wie lange noch?“
Nahezu eine Minute starrte sie abwesend ins Leere, raffte sich dann auf und setzte den Kaffee auf. Ihre Bewegungen waren mechanisch, so mechanisch wie alles an ihrem Handeln, außer sie genoss gerade einen der wenigen Augenblicke, in denen sie die Landschaft oder andere kleine Dinge des Lebens bewunderte. Grummelnd drehte sie sich um und schlurfte durch das kühle Haus zur Treppe, die ins Obergeschoss führte – im Morgenmantel war ihr definitiv zu kalt, richtige Kleider mussten her, damit der Tag angepackt werden konnte.
Herzhaft biss Alexander ein Stück von Melissas selbstgebackenen Brot ab und kaute genüsslich darauf herum. „Das ist fabelhaft. Kaum auszumalen, den harten Winter ohne unseren gut gefüllten Lebensmittelkeller durchzustehen.“
„Ja“, stimmte sie ihm zu, die letzten Krümel von der rustikalen Tischplatte pickend. „Es sollte für ein Weilchen reichen.“
„Trotzdem werde ich heute auf die Jagd gehen“, warf Alexander ein, vage in Richtung seines soliden Schuhwerks deutend, das neben dem Eingang stand. „Das Wetter ist ordentlich, es sieht nicht nach Schneestürmen aus. Wer weiß, vielleicht finde ich einen Hirsch.“
Obwohl seine Frau versuchte, ihre Besorgnis zu überspielen, war sie herauszuhören. „Bist du sicher? Ich meine, wir haben mehr als genug in der Vorratskammer …“
„Die Konkurrenz schläft nicht und die Insel ist relativ klein“, unterbrach er sie beschwichtigend. „Außerdem haben wir über fünfhundert überstanden, die restlichen paar machen mir da keine Sorge.“
Bereits fünfzehn Jahre waren die beiden verheiratet und Melissa konnte behaupten, ihren Mann in jeder Situation zu durchschauen, bloß diesmal war sie unsicher, ob sein Optimismus echt war. „Da hast du bestimmt Recht“, sagte sie, ohne ihre Skepsis zu übertünchen. „Aber pass auf dich auf, auch hundert sind noch eine ganze Menge.“
„Werde ich, werde ich“, brummte er und schluckte den letzten Bissen seines Brotes. Ruckartig erhob er sich, um zur Truhe zu gehen, die am anderen Ende des Raumes stand. Während Melissa das Geschirr abtrug, wühlte Alexander in ihrem Arsenal und kramte ein Jagdgewehr sowie eine handliche Pistole hervor, die er an seinem Gürtel befestigte. Mit einem leichten Schnaufen, das sie wiederum als Anzeichen des Alterns interpretierte, streifte er seine Tarnmuster-Jacke über und stellte sich hinter seine Frau. Sie umarmend flüsterte er: „Schatz, hast du die Neun-Millimeter dabei? Man kann nie vorsichtig genug sein, wenn man ein Haus hat.“
Sie umfasste seine Hand, führte sie zärtlich zu ihrer Hüfte, wo die Waffe schwer in ihrer Hosentasche wog. „Ich bin immer vorsichtig, das hast du mir beigebracht.“ Nach einer Pause ergänzte sie: „Wir haben die richtige Entscheidung getroffen.“ Ob sie ihn oder sich bestätigen wollte, war ihr unklar.
„M-hm“, machte er und wandte sich zum Gehen. „Ich bin bis Sonnenuntergang zurück.“
Quietschend wurde hinter ihr die schwere Tür des Blockhauses geöffnet und ließ einen eisigen Windstoß in die traute Stube, als Alexander in den Schnee verschwand.
Melissa wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn – darauf, die Körner für ihr Mehl selbst mahlen zu müssen, könnte sie echt verzichten. Kurz linste sie aus auf den Sonnenstand. Brächte sie diese ungeliebte Tätigkeit schnell hinter sich, war es Zeit für das Tagebuch. Indigniert stöhnend putzte sie ihre Hände an der Schürze ab, zog sie aus und warf sie achtlos über einen Stuhl. Auf dem Weg zum leeren Zimmer wiederholte sie das Mantra, das ihr vor ihrem Aufenthalt auf dieser Insel eingebläut worden war: „Sei unterhaltsam, sei persönlich, sei offen, sei ehrlich.“ Nachdem Melissa den Satz einige Male heruntergebetet hatte, zwang sie sich ein Lächeln aufs Gesicht und betrat den Raum, in dem nur ein Stuhl, ein Schreibtisch sowie ein Laptop mit Webcam standen, der von einem Solarpaneel mit Strom versorgt wurde. Entschlossen klappte sie das Gerät auf, das sogleich aus dem Standby erwachte, dann öffnete sie die einzige installierte App. Erst klickte sie auf das „Statistik“-Tab und stellte zufrieden fest, dass die Zahl ihrer Kontrahenten auf zweiundachtzig gesunken war. Danach wechselte sie zum „Videotagebuch“-Tab und die kleine Leuchtdiode neben der Webcam blinkte. Melissa räusperte sich, wartete einige Sekunden, um sich geistig vorzubereiten, bis sie in ruhigem, fast heiterem Tonfall begann: „Zweihundertfünfzehn Tage ist es her, seit uns die Scheiß-Diktatur vor die Wahl gestellt hat, entweder im Arbeitslager oder auf dieser Insel in einer Reality-Show zu krepieren, weil wir wie vernünftige Leute denken, statt die Schnauze zu halten.“
Sie stoppte die Aufnahme und klickte auf „Löschen / Neuer Take“. Dieser Anfang war zu ihrem alltäglichen Ritual geworden, eine ungesehene, stumme Form des Trotzes, ein letztes Aufbäumen ihres Kampfgeistes. Unberührt setzte sie erneut an: „Zweihundertfünfzehn Tage ist es her, seit wir die Wahl bekommen haben, für unsere Freiheit zu kämpfen. Von den Sechshundert sind noch vierundachtzig übrig und ich glaube nach wie vor fest daran, wir werden das letzte Paar sein. Wir haben eines der wenigen Häuser, Waffen sowie genügend Nahrung, um den Winter zu überstehen, Alexander hat eigenhändig zwölf Kontrahenten erledigt, ich weitere drei.“
Ohne viel überlegen zu müssen, leierte Melissa ihren Text mit kontrollierter Mimik und Gestik herunter. Sie erinnerte sich daran, wie sie im Gefängnis von einem Regierungsagenten darauf angesprochen worden war, die einmalige Chance zu erhalten, in ein freies Land zu entkommen. Besser als in einem Arbeitslager zu verrecken war es allemal. Rasch ermahnte Melissa sich, bei der Sache zu bleiben, denn jetzt kam der persönliche Teil, in dem sie das Publikum mit emotionalem Gedöns auf ihre Seite ziehen musste. „Manchmal, in der Nacht, wenn der Wind das Gebälk zum Knarren bringt, habe ich Angst, jemand will uns unsere Position streitig machen, das Haus angreifen, unseren Platz einnehmen.“ Ihre verängstigte Miene wandelte sich zu einem zuversichtlichen Ausdruck. „Aber mein Mann ist ein guter Jäger und Kämpfer und ich bin überzeugt, dass wir gewinnen. Ja, Schnee und Eis werden die Reihen der Gegner lichten, wir werden alle sechshundert überleben!“
Melissa beendete die Aufnahme und drückte den „Senden“-Button, ehe sie zackig aufstand, das Gerät ausschaltete und sarkastisch knurrte: „Die Scharade geht weiter, bleiben Sie dran, um zu sehen, wie wir in der Abgeschiedenheit der wunderschönen Natur unseresgleichen abmetzeln. Sechshundert Regimekritiker? Pah, ein Klacks, das schaffen wir in einer Staffel!“