Siri hatte zwar die nächste Bar gefunden, doch damit, was danach geschehen war, hätte die perfekt modulierte Stimme aus dem Handy wohl nicht gerechnet. Nun ja, wie hätte sie auch sollen, immerhin war sie keine echte Person, sondern Teil eines Computerprogramm, das sich die halbe Zeit darüber beschwerte, einen nicht verstehen zu können. Mira dagegen war sehr real, doch nicht minder verständnislos. In ihrem Kopf brummte es, wie der Motor eines Lastwagens, und jedes Geräusch wirkte, als wäre es dumpf und sehr, sehr weit entfernt. Ohne die Augen aufzumachen, drückte Mira auf den vertrauten Knopf und murmelte so lallend, dass weder sie selbst, noch das neuste Mobiltelefon sie hätten verstehen können: „Siri – Kaffee.“
„Tut mir leid, ich kann sie leider nicht verstehen“, erklang die Antwort und Mira stellte sich geistig vor, wie sie die Augen verdrehte, bis sie erschrocken zusammenfuhr. Die Stimme! Siri war zwar auch eine Frau, doch sie hatte keine kratzige Mittvierziger Raucherstimme, oder? Mira brauchte all ihre Anstrengung, um die Augen aufzumachen und trotz der möglicherweise drohenden Gefahr schien sie es nur in Zeitlupe fertigzubringen. Zuerst erkannte sie alles wie durch einen Schleier, konnte viel graubraune Farbe und einen großen Fleck erkennen, der menschlich zu sein schien. Dann, ganz langsam, klärte sich das Bild und Mira begriff, dass sie auf einer Art hölzernen Bank ausgestreckt lag, den Kopf hatte sie auf ihrem verknüllten Blazer abgelegt gehabt. Auf dem kleinen Rest der Bank, den sie freigelassen hatte, saß eine füllige Frau, die typisch für die Arbeiterschicht gekleidet war, nach Zigarettenrauch roch und Mira amüsiert beobachtete. Jetzt erklärte sie breit grinsend: „Na, auch schon wach?“
„Sie sind nicht Siri“, murmelte Mira verwirrt, bis sie sich der Lächerlichkeit ihres Kommentars bewusst wurde, und fügte dann schon etwas wacher hinzu: „Wo bin ich?“
„Du bist auf der Polizeistation, Kleine“, erwiderte die andere heiser lachend. „Genauer gesagt in Untersuchungshaft.“
„Was?“, fragte Mira entsetzt, während sie realisierte, dass sie noch immer den Knopf an ihrem Blazer gedrückt hielt, mit dem sie zuvor ihr Handy hatte bedienen wollen. „Wieso?“
„Woher soll ich denn das wissen?“, erwiderte die andere schulterzuckend. „Bei deiner Schrulligkeit hättest du alles Mögliche anstellen können.“
„Ich bin nicht …“, begann Mira, besann sich dann aber einer besseren. Manchmal hatte die junge Grafikerin ihre Ausrutscher, doch normalerweise hatten diese eher mit Ungeschick zu tun und nicht mit Verbrechen. „Und wieso bist du hier?“, fragte sie zögernd, denn sie war sich nicht sicher, ob sie es wirklich wissen wollte.
Die ältere Frau lachte mit kehliger Stimme. „Nachtruhestörung. Ich habe vor dem Fenster meines Exfreundes ein Liebesgedicht vorgesungen. Übrigens, ich bin Janet.“
„Nicht gerade die gängige Konzertkultur“, überlegte Mira ernsthaft, denn dank ihrem Zustand war sie sich der Ironie ihrer Aussage nicht im Geringsten bewusst. Janet musste laut loslachen und meinte dann: „Okay, das erklärt meine Geschichte, aber was ist deine?“
„Hm …“, begann Mira angestrengt nachzudenken. „Erst waren da meine Freundinnen, dann eine Bar, dann eine Disco, dann eine andere Bar und dann weiß ich nichts mehr.“
„Blackout“, kommentierte Janet trocken. „Kenn ich, ich war auch mal jung.“
„Eigentlich trinke ich keinen Alkohol“, murmelte Mira noch immer verwirrt.
„Ach komm schon, biste auch so ein Gesundheitsnazi?“, fragte Janet schon beinahe empört. „Ne kleine Feier hier und da kommt in den besten Kreisen vor.“
„Aber ich bin auf einer Polizeistation“, wandte sie ein und diesmal schwang eine Spur von Verunsicherung oder Angst in ihrer Stimme mit. „Was ist passiert?“
„Woher soll ich das wissen?“, entgegnete Janet schulterzuckend. Noch bevor Mira die Chance gehabt hätte, etwas zu entgegnen, rief die Beamtin vom Endes des Flurs: „Janet Simpson, jemand hat ihre Kaution bezahlt, sie können gehen.“
Janet erhob sich und meinte: „Und darum ist’s gut, eine große Familie zu haben. Irgendwo findet sich immer ein Trottel, der glaubt, ich hätte es nicht verdient, hier zu sitzen. Viel Glück Kleine, was auch immer du ausgefressen hast.“
Mira wusste nicht, was sie sagen sollte, als Janet sich erhob und von der Wärterin nach draußen begleitet wurde, wo sie in einem Viereck aus hellem Licht, wohl der Tür zum Büro, verschwand. Jetzt war sie wieder allein, ohne Janet und noch viel verwirrender, ohne Siri. Siri hatte ihr immer auf alle ihre Fragen Antwort gegeben, gleichgültig wie ihre Laune gewesen war. Doch wo könnte Siri wohl sein?
Jake stand am Straßenrand auf dem regennassen Pflaster und rührte sich nicht, starrte einfach nur auf das, was vor ihm lag. Der Herbststurm riss an seiner Jacke und seinen Haaren, wehte lose Blätter über den Asphalt. Er versuchte den Kloß im Hals herunterzuschlucken, doch er konnte sich kaum dazu überwinden, sich zu bewegen. Die Szene vor ihm hatte etwas Schauriges. Die Kreidemarkierungen auf dem Boden zeigten an, wo der schwere, alte Ford von der Straße abgekommen und auf den Bürgersteig geraten war. Und wo er Jakes Bruder erfasst hatte und wo der Wagen schließlich zum Stehen gekommen war, frontal in eine mit Graffiti verschmierte Ziegelwand gerammt. Alles war mit gelbem Flatterband abgesperrt und einige Forensiker untersuchten noch immer den Wagen, ganz so als könnten sie noch etwas herausfinden, das sie noch nicht wussten. Sie hatten sogar die Stelle markiert mit einem Hütchen markiert, an der die Fahrerin ihr Mobiltelefon liegengelassen hatte, nachdem sie die Polizei gerufen hatte.
Traurig schüttelte Jake den Kopf und legte den Kranz, den er die ganze Zeit über umklammert gehalten hatte, vor dem Tatort nieder. Er wusste, dass es nur eine leere Geste war, dass ihm nichts seinen Bruder wieder zurückbringen würde, doch er fühlte sich so in seinem Schockzustand irgendwie ein kleines bisschen besser. Gerade als er bei seinem Wagen angelangt war, konnte er sein Handy klingeln hören. Das musste der Anwalt sein, der ihm hoffentlich sagen würde, dass er endlich Janet aus dem Gefängnis abholen konnte. Wer singt denn heutzutage noch Liebesgedichte? Sein amüsiertes Lächeln verschwand rasch, als er daran denken musste, dass er seiner Schwester irgendwie das Geschehene erklären müsste.
Fabiana saß an der Bar und nahm ein Schluck von ihrer Cola, die jeder Beobachter für einen starken, alkoholischen Drink hätte halten können. Sie wollte an diesem Abend zwar betrunken wirken, doch die volle Kontrolle über all ihre Sinne behalten, was ihr mit etwas Schauspielerei bisher auch sehr gut gelungen war. Denn sie hatte einen Plan und war überzeugt, dass dieser perfekt war. Alles, was ihr jetzt noch fehlte, war jemand, der naiv und betrunken genug war, um ein leichtes Bauernopfer abzugeben. Immer wieder wanderte ihr Blick zu der jungen Frau, sie ständig mit ihrem Handy sprach, ganz so als würde sie sich mit dem Gerät unterhalten. „Siri hier, Siri da, was für eine dumme Schlampe …“, murmelte Fabiana vor sich hin und beobachtete, wie die Fremde, deren Freundinnen längst nach Hause gegangen waren, einen weiteren großen Schluck aus ihrem Martiniglas nahm. Sie schien tatsächlich glücklich und zufrieden zu sein, wie sie ganz für sich alleine da saß und auf ihr verfluchtes Mobiltelefon einquatschte. „Pathetisch“, sagte Fabiana beinahe etwas zu laut zu sich selbst, während sie sich erhob und entschlossen auf die Betrunkene zuging. Ihre Hand umfasste das kleine Fläschchen mit den K.O.-Tropfen in ihrer Jackentasche. Nein, eine kostspielige Scheidung käme für sie tatsächlich nicht in Frage, doch heute Nacht würde ihr werter Gatte einen üblen Unfall auf dem Nachhauseweg haben. Eine Betrunkene würde ihn überfahren und die trauernde Witwe, die nicht mit dieser Tat in Verbindung gebracht werden würde, hätte ein- für allemal ausgesorgt. Alles, was sie dafür tun musste, war, sich ein Auto und eine im Zeugenstand nicht glaubwürdige Person auszuborgen, den Drecksack zu überfahren und ihre Fingerabdrücke überall wegzuwischen. Der perfekte Mord.
„… und Sie sind sich sicher, dass Sie sich an nichts mehr erinnern?“, fragte der Beamte etwas schroff, sodass Mira ihn eingeschüchtert beäugte, währendem sie kaum merklich den Kopf schüttelte. Der Verhörraum sah, wie die ganze Polizeistation, eher abstoßend aus, karg und heruntergekommen. „Nein, was ist denn überhaupt passiert?“
Der Polizist hob mahnend einen Finger. „Sie wissen schon, dass es nichts am Strafmaß ändern wird, wenn Sie so tun, als wüssten Sie von nichts mehr?“
Mira überlegte angestrengt und mit einem Mal hellte sich ihre Miene auf. „Siri sollte alles wissen.“
„Wer zum Teufel ist Siri?“, erkundigte sich der Ermittler, dem man gut ansehen konnte, dass er nicht wusste, ob er sich nun aufregen oder einfach bei seiner Verwirrung bleiben sollte.
„Mein Handy“, erklärte sie. „Ich weiß noch, dass ich bemerkt habe, wie ich sehr betrunken wurde und dann die Videokamera eingeschaltet habe. Sie wissen schon, nur für den Fall, dass ich mich an etwas erinnern müsste. Aber eben, Siri ist fort.“
„Wissen Sie was? Wir haben ein Mobiltelefon beschlagnahmt, das am Tatort auf dem Boden lag. Ich hole es gleich“, meinte der Polizist erfreut und erhob sich mit einer neu gewonnenen Motivation. Endlich eine Verbrecherin, die ihm sogar den Beweis für ihre Schuld freiwillig lieferte, dachte er gutgelaunt, während er die Tür des Verhörraums schloss und in den langen, tristen Gang einbog, der in die Tiefen der Polizeistation führte.