Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Es war Abend geworden auf der Aplomb-Ranch, einige Kinder kicherten auf ihrem Weg von der Messe in die Schlafbungalows, die Ziegen versammelten sich unter der Linde bei den Stallungen und warteten darauf, dass die Tür für sie geöffnet wurde. Gryt nahm sein Tuch aus der Gesäßtasche, wischte sich übers Gesicht und löste die Knöpfe an seinen Hosenträgern. Seine Arbeit in der angeschlossenen Baumschule war anstrengend, alleine heute hatte er über fünfhundert Stecklinge aus dem Kalthaus getragen und sie in die vorgepflügte Erde gesetzt. Dennoch mochte er seine Aufgabe, das Leben auf der Farm gab ihm etwas, das er nirgends sonst gefunden hatte.
„Don’t worry, about a thing.“, sang er, den Kopf in den Nacken gelegt gegen den grellen Sonnenuntergang blinzelnd. „’Cause every little thing, gonna be all right.“ Nach Jahrzehnten des Verlorenseins in der Außenwelt war er hier gestrandet, nein, aufgenommen worden. Die Struktur und der Zusammenhalt unter den Schülern Sirenas hatten ihn zur Ruhe kommen lassen. „Singin’, don’t worry, about a thing …“
„Gryt.“ Schwester Melinda tauchte hinter dem Gatter zur Weide auf, stellte sich auf die Zehenspitzen und linste über die Reihe der zweijährigen Tännchen, der Bommel ihrer Pudelmütze wackelte lustig. „Ist der Schraubenzieher aus dem Baumschulkasten Drei bei dir?“
Er hob zwei Finger zum Gruß, schaute sich um und deutete schulterzuckend auf die Scheune am Westende des Geländes, deren Fassade wie ein Schachbrett in Dunkelbraun und Beige gemustert war. „Bruder Rob ist dabei die morschen Schindeln auszutauschen, wahrscheinlich hat er ihn mitgenommen.“
„Okay, dann frage ich ihn. Danke dir, Gryt.“ Sie lächelte ihn an, dabei wurde ihre verfaulte Zahnreihe sichtbar, bestimmt hatte sie deshalb Schmerzen. Crystal Meth macht sowas mit Menschen, das und Schlimmeres.
„Don’t worry“, verabschiedete er sie trällernd. „About a thing. ’Cause every little thing, gonna be all right.“
„Wird es.“ Sie wandte sich vom Zaun ab und trabte in Richtung des Futterschobers davon, während Gryt in sein Lied versunken seine Werkzeuge vom Boden sammelte. „Rise up this mornin’, smile with the risin’ sun.“ Er war kein guter Sänger, aber Gryts Gesangskünste reichten aus, um hier und da die Abendrunde zu unterhalten oder sich in das Geträller der Plantagenvögel einzustimmen. „Three little birds.“
„Na, beschwörst du wieder Marley herauf?“, säuselte Sirena zwischen den Nadelästen hindurch.
„Wie immer“, erwiderte er schmunzelnd und half der betagten Frau übers Geländer. Gemeinsam schlenderten sie einer noch unbepflanzten Pflugrinne entlang zur Bank vor dem Kalthaus. „Three little birds, pitched by my doorstep“, brummte Gryt unbeirrt vor sich hin, als er Sirena festhielt, die sich ächzend setzte. Keiner Aplomb-Bewohner wusste, wie alt ihre Anführerin war. Einige vermuteten, sie hätte die Hundertjahrmarke längst überschritten, andere hielten sie für unsterblich, Gryt glaubte, sie stünde über solch menschlichen Dingen wie Zeit. Ein wenig erinnerte sie ihn an die kostümierten Leute, die Ende Winter durch sein Heimatstädtchen marschierten und Waldschrat-Masken trugen. Vielleicht war sie tatsächlich ein fabelhaftes Wesen, eine magische Gestalt, Schutzgöttin der Ausgestoßenen, Vergessenen und Abgestürzten.
„Ach, ich mag es, wenn du singst“, meinte Sirena seufzend. „Im Singen liegt Kraft verborgen, nicht wahr?“
„Natürlich“, stimmte er zu und ließ sich neben ihr auf die Holzbank fallen, lehnte sich an das kühle Glas des Gewächshauses. Sie strahlte eine Wärme ab, die ihn einhüllte, ihr ehrwürdige Glanz traf auf ihn und er fühlte sich regelrecht erhoben. „Und Ruhe.“ Das Abendrot war verblasst, lediglich einige Wolkenstreifen glühten noch lavendelpink. „Singin’ sweet songs, of melodies pure and true.“
„Ruhe würde ich es nicht nennen“, unterbrach Sirena die gemütliche Stimmung in einem ungewohnt rauen Tonfall. „Kraft, Gewalt, Lebenssaft. Ja, das ist Singen. Und ich brauche ihn, Gryt, ich brauche den Saft!“
Ein wenig irritiert blickte er seine Führerin an, da flog ein Schatten durch sein Sichtfeld und ein kleiner Vogel landete auf seinem Schoß. „Wa … was?“, stammelte Gryt und sprang auf, das tote Tier purzelte auf die Steinfliesen. „Oh nein!“
„Sayin’, ‚This is my message to you, whoo-hoo‘“, summte Sirena kaum verständlich, ihre dünnen Lippen verzogen sich zu einem undurchschaubaren Grinsen, da fiel ein zweiter und ein dritter Spatz vom Dach. „Singin’, don’t worry, about a thing.“
„Oh mein Gott, was ist mit ihnen?“ Gryt beugte sich vor, die Vögelchen starrten ihn an, atmeten schwer, bewegten sich ansonsten nicht. In ihren aufgerissenen Augen erkannte er blanke Panik.
„’Cause every little thing, is gonna be all right.“ Sirenas Stimme verzerrte sich, sie sang ihr eigenes Echo und plötzlich verschwand beinahe alles Licht aus der Welt.
„Sirena?!“, kreischte Gryt besorgt, bevor er einen Schritt auf sie zuging und gequält aufschrie. Ein scharfes Kratzen in seinem Hals, der Geschmack von Blut und Magensäure, zwang ihn in die Knie, als hätte er einen Angelhaken verschluckt.
„Singin’, don’t worry, don’t worry ’bout a thing“, krächzte Sirena weiter, in der kontrastlosen Nacht verschwamm ihre Silhouette mit der Schwärze, nur ihre Pupillen schienen in milchigem Weiß zu lodern. „’Cause every little thing, gonna be all right. Singin’, don’t worry, about a thing.“
„I won’t worry!“, gab Gryt zurück und wurde von der Sirene verschlungen.