Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Geschichte spielt im erweiterten Universum „Nach Hause“.
Ain’t got no home, ain’t got no shoes
Ain’t got no money, ain’t got no class
„Noch einen“, schnalzte Pete über den Tresen hinweg und erntete dafür eine skeptisch erhobene Braue von Annika. Sie blickte auf ihre winzige Golduhr, seufzte demonstrativ, goss ihm dann dennoch Whiskey nach.
„Du weißt schon, dass es gerade mal fünf Uhr ist?“ Sie stellte die rhetorische Frage nur, um ihr eigenes Gewissen etwas zu erleichtern. Hier im italienischen Restaurant ihres verstorbenen Vaters war es immer fünf Uhr, oder zwölf, oder früh morgens, spät abends; es spielte keine Rolle, so etwas wie Zeit existierte hinter den dicken Samtvorhängen nicht. Das Einzige, das in diesem dunstigen Raum stetig weitertickte, war die Lebenszeit der Säufer und Prostituierten, die Tag für Tag dieselben Barhocker und Essnischen besetzten. Erbarmungslos, ohne Halt zu machen, rannen ihre Leben vor Annikas Augen aus. Ihr eigenes war nicht viel anders, auch ihr Leben erbarmte sich ihrer nicht, sondern tropfte lau vor sich hin, versickerte scheinbar spurlos in ihren gescheiterten Träumen.
Ain’t got no skirts, ain’t got no sweaters
Ain’t got no perfume, ain’t got no love
“Ja, ja”, gab der pensionierte Maurermeister zurück und führte dann das Glas an seine dünnen Lippen. „Dass du andauernd den Moralapostel spielen musst.“ Sie nickte beiläufig, hatte das Gespräch schon wieder beiseitegeschoben. Annika stellte die Flasche zurück aufs Regal und verharrte in Gedanken versunken. Während sich heute kaum jemand mehr an die Zeit der Prohibition erinnern konnte, hatte sich das Restaurant ihres Vaters nie davon erholt; es war nach der Instandsetzung des 21. Zusatzartikels vom schillernden Untergrundlokal zu einer stinkenden Senkgrube für den äußersten Rand der Gesellschaft verkommen. Ihren Vater hatte das nie gestört, manch einer mochte gar behaupten, er hätte es genossen, sich unter Seinesgleichen zu wissen. Annika hingegen hörte immer häufiger die Stimme des Predigers in ihren Ohren klingen. Es zermarterte sie, quälte sie, doch der Stein war vom stetigen Tropfen gehöhlt, konnte nicht repariert werden.
Ain’t got no mind, ain’t got no father
Ain’t got no mother, ain’t got no culture
“Noch einer”, kündigte Pete den nächsten Gast an. Annika berührte den dünnen Ring, der sie seit dem Tod ihrer Mutter begleitete, ehe sie sich auf den Hacken zum Eingang drehte. Mit einem wenig einladenden Lächeln wollte sie den Neuankömmling im Vorhof der Hölle willkommen heißen, aber was sie sah, ließ sie vor Schreck gefrieren. Es war Nate, einer ihrer Stammkunden, der wie viele andere stets beteuerte, er stünde kurz vor dem großen Durchbruch. Jeder Drink war sein letzter, jede Frau die eine und jeder Absturz am nächsten Morgen vergessen.
„Scheiße, Nate, was ist denn mit dir los?!“, spie Pete verunsichert aus, nahm Annika damit die Worte aus dem Mund. Nate sah noch fürchterlicher aus als normalerweise und das wollte etwas heißen; seine fettigen Haare standen ihm in Klumpen vom Kopf, die Kleidung hing dreckig an ihm herunter und seine Haut war an zwei Stellen seines Gesichts aufgeplatzt.
Ain’t got no friends, ain’t got no schooling
Ain’t got no love, ain’t got no name
„Der sieht aus wie nach `ner Exhumierung“, murmelte Pete nun sichtlich irritiert. Annika wollte dem Trinker zustimmen, etwas, das sie in der Regel nur sehr ungern tat, jedoch kam sie nicht dazu. Mit einem grausig kehligen Grunzen schnellte Nate unvermittelt vorwärts, stürzte sich direkt auf eine gealterte Hure und schlug seine Zähne in ihren Nacken. Alles ging so rasant von statten, sodass es dem alten Mädchen nicht einmal gelang, aufzuschreien, bevor Nate ihre Luftröhre aufriss. Annikas Körper erschütterte beim Anblick des Blutes, das mit kräftigen Stößen aus Cherrys Arterien gepumpt wurde. Sie hörte Knochen bersten und Sehnen schnappen. „Was zum …?!“ Entrüstet stand Pete auf und torkelte Hals über Kopf auf seinen wildgewordenen Saufkumpanen zu. „Sag mal, spinnst du? Lass Cherry los!“, bellte er, augenscheinlich nicht um seine eigene Sicherheit besorgt. Pete war ein Taugenichts, der es sich gleichwohl nicht nehmen ließ, in unmöglichen Situationen den Kavalier zu spielen.
Ain’t got no ticket, ain’t got no token
Ain’t got no country, ain’t got no God
Pete rang eine gefühlte Ewigkeit mit dem tobenden Ungetüm, dessen Gestalt nur noch entfernt an Nate erinnerte. Es war blutverschmiert, krächzte schauerlich bei jeder Bewegung. Cherrys leblose Hülle lag zerschunden, gerissen wie ein Schaf zwischen dem Eingang und ihrem Stammtisch, sie zuckte noch, zumindest bildete sich Annika das ein.
„Himmelherrgott“, murmelte sie verängstigt. Pete verlor den Griff um Nates Handgelenke und wurde von diesem brutal zu Boden geschmettert. Als sich das schreiende Wesen auf ihren langjährigen Barbesucher warf, Stück für Stück frisches Fleisch aus seinen Armen und der Brust zupfte, wie Zuckerwatte, kauerte sich Annika hinter den Tresen. Die schiere Panik wollte sie in die Knie zwingen, sie zur Flucht in die Resignation treiben; aber Annika war noch nicht bereit, für Absolution zu beten. Sie unterdrückte die Hysterie mit einem spitzen Schrei.
And what have I got, why am I alive anyway
Yeah what have I got, nobody can take away
Das verstaubte Glas mit dem Instantkaffee zerschellte zu ihren Füßen und der Duft des friedlich einsamen Morgens vermischte sich mit dem Gestank von Blut, Schweiß und Exkrementen. Hinter ihr lag die Küche, ein kleiner Raum ohne Fenster, der seit Jahren als Lager fungierte und vor dessen Hintertür hunderte Liter Alkohol gestapelt waren. Annika sah keinen anderen Ausweg, ihr blieb bloß der Eingang. Innerlich verfluchte sie den Gesundheitsinspektor, der ihr zuliebe beide Augen zugedrückt hatte. Etwas zu hastig ergriff sie die Schrotflinte ihres Vaters und stieß damit ein weiteres Glas um. Langsam, stockend richtete sich Nate auf, gab die Sicht frei auf Pete, dessen Gesicht im blutigen Chaos nicht mehr zu erkennen war. Er lebte noch, gurgelte mit letzter Kraft, nur konnte Annika ihn nicht verstehen.
„Nate!“, kreischte sie aus vollen Lungen und hielt den Lauf ihrer Flinte auf das Ungetüm gerichtet. „Setz dich und heb die Hände über den Kopf!“
Got my hair, got my head, got my brains, got my ears
Got my eyes, got my nose, got my mouth, I got my smile
Annika fühlte sich wie eine Protagonistin in einem ihrer Schundromane, die sie aus Scham hinter anderen Umschlägen versteckte. Sie war unbescholten in einer misslichen Situation gelandet, nur eilte kein muskulöser Prinz zu ihrer Rettung herbei; dieser Part blieb ihr selbst überlassen. Erst jetzt wurde ihr klar, dass die wenigen Gäste alle verschüchtert und weinend neben dem Spielautomaten hockten, zu verstört, um wegzurennen.
„Nate, hast du mich verstanden?“ Er antwortete mit einem dumpfen Stöhnen, ein Geräusch, das sie noch nie zuvor aus dem Mund eines Menschen gehört hatte. Es klang wie das Röcheln einer sterbenden, schlotternden Sau am Fleischerhaken. „Ich meine es ernst, Nate!“
Ein Bein nachziehend begann der irre gewordene Säufer in ihre Richtung zu schlurfen, er schnellte nicht auf sie zu, wie er das bei Cherry und Pete gemacht hatte, sondern schien die Panik in ihren Zügen durch seine leeren Augen hindurch genießen zu wollen.
I got my tongue, got my chin, got my neck, got my boobies
Got my heart, got my soul, got my back, I got my sex
Die Theke bot ihr kaum Schutz, reichte ihr lediglich knapp über den Bauchnabel, trotzdem war sie froh, das maßive Holz zwischen sich und Nate zu wissen. Ihr Schlachtfeld war kein Adlerhorst aber auch keine weite Flur, zudem stimmte Annika das Gewicht der Flinte zuversichtlich. Sie hatte Nate nicht sonderlich gemocht, keiner tat das, allerdings hatte niemand ein schlechtes Wort für ihn übrig; er war dumm, hatte keinen Funken Ambition in den Knochen, doch er war ein anständiger Nichtsnutz, ein freundlicher Geselle, der niemandem etwas Böses wünschte. Der Mann, der nun auf sie hinzustolperte, war nicht Nate, er konnte es einfach nicht sein; was hier passierte war surreal, verrückt. Petes und Cherrys Blut floss in dicken, sirupartigen Rinnsalen von seinen Händen, tropfte hinweg wie das Leben der beiden Stammgäste. Das Ungetüm bleckte die Zähne, präsentierte Annika voll sadistischer Befriedigung die faserigen Gewebefetzen dazwischen. „Nate!“, schrie sie ein weiteres Mal, dann zerbrach das Fenster.
I got my arms, got my hands, got my fingers, got my legs
Got my feet, got my toes, got my liver, got my blood
Drei Frauen und ein Kind, vielleicht gerade mal sechs Jahre alt, stürmten über die Splitter hinweg in das italienische Restaurant hinein, quiekten und ächzten wie wilde Tiere an der Leine, ehe sie innehielten. Während Annika noch immer Nate im Visier hatte, entdeckte die Meute ihre Gäste beim Spielautomaten; sie konnte nichts unternehmen, konnte sie nicht aufhalten. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Annika auf das grausame Schauspiel, das Blutbad, das Fleischfest, das sich am anderen Ende des Lokals abspielte und vergaß dabei für einen Herzschlag die Bestie vor ihr. Nate ließ ein ohrenbetäubendes, donnerndes Brüllen verlauten, bevor er sich mit einem kraftvollen Stoß über den Tresen katapultierte. Annika war wie betäubt, blickte voller Abscheu und Angst in den schnappenden Schlund, der sie zu verschlingen drohte.
Ein Schuss. Ein Augenblick. Ein tiefer Atemzug. Eine wendige Bewegung. Dann wandte sich Annika der fressenden Meute zu.
I’ve got life, I’ve got my freedom, I got life, I got life
And I’m gonna keep it, I’ve got life and nobody’s gonna take it away
I’ve got life