Als ich heute Morgen meinen Wagen aus der Auffahrt lenkte, fiel mir ein, dass ich etwas vergessen hatte. Also habe ich wieder zurückgesetzt, den Schlüssel stecken lassen und bin durch die Küchentür gehastet, um das Geld für Jamies Exkursion auf den Tresen zu legen. Ich erinnere mich daran, dass ich am Vortag so wütend auf sie gewesen war, weil sie wieder einmal meinen Lieblingspulli ohne meine Erlaubnis genommen hatte. Doch das kommt mir jetzt nur noch wie ein schlechter Witz vor.
Mein Tag hatte so angefangen wie die meisten anderen und ich hätte nicht eine Sekunde daran gezweifelt, dass er auch so enden würde. Ich war um viertel vor fünf aufgestanden, war laufen gegangen, mich danach geduscht, meine Bluse in den Bleistiftrock gesteckt und eine Banane für unterwegs eingesteckt, so wie immer. Als ich in die Lobby des Konsulats kam, hatte Melissa schon auf mich gewartet und mir die Unterlagen ausgehändigt, die ich ihr gestern Abend erst zur Überarbeitung gegeben hatte. Gerne hätte ich sie dafür gelobt, doch ich wusste, dass sie das nicht mochte und vermutlich war sie nicht zuletzt deshalb die beste Assistentin, die ich je gehabt hatte. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist, doch ich hoffe, dass sie in ihrer Mittagspause mit den anderen zum Lunch gegangen war.
Der Morgen war etwas stressiger gewesen, als ich erwartet hatte, doch darüber hätte ich mich nie beschwert. Ich mochte es, wenn mein Tagesplan so voll war, wie meine Box mit den Bleistiften und Kugelschreibern. Wenn es viel zu erledigen gab, hatte ich das Gefühl, dass das was ich tat wichtig wäre und zudem hielt es mich davon ab, mir zu viele Gedanken zu machen. Ein voller Posteingang, ein klingelndes Telefon und ein Stapel Akten auf meinem Schreibtisch ließen es nicht zu, dass ich mich über Teenager, Eheprobleme oder die Leasingraten für unser Motorboot den Kopf zermarterte. Doch jetzt wünsche ich mir nur noch das, die alltäglichen Sorgen.
Es war gegen halb elf gewesen, als David, der frischgebackene Diplomat, zu mir ins Büro gestürmt kam und mich angefleht hatte, ihm mit den Sitzungsvorbereitungen zu helfen. Ich wusste nicht, wieso er ausgerechnet mich gefragt hatte, immerhin hatte ich mit der Angelegenheit bisher noch nichts zu tun gehabt, aber er war ein netter Kerl, also verabredete ich mich mit ihm für den Nachmittag. Ich hatte mir vorgenommen, mich während dem Mittagessen kurz ins Thema einzulesen und mich ein wenig schuldig gefühlt, als ich es nicht geschafft hatte. Aber das spielte keine Rolle mehr, heute gäbe es keine Sitzung mehr und wahrscheinlich gibt es auch David nicht mehr.
Melissa hatte kurz vor meiner Pause einen wichtigen Anruf an mich durchgestellt und obwohl ich es nur ungern zugegeben hatte, musste ich einsehen, dass ich die Übersetzerin hinzuziehen sollte. Also bat ich den Herrn am anderen Ende höflich um Geduld und rief Abby, die heute ausnahmsweise ihre kleine Tochter zur Arbeit mitgebracht hatte. Während dem Telefonat saß das Mädchen brav auf meiner Couch, spielte oder las etwas auf einem Tablet und wippte mit ihren dürren Beinchen hin und her. Ich weiß noch, dass ich mich ein wenig darüber geärgert hatte, nicht weil mich das Kind störte, sondern weil es mir damals, als Jamie noch so jung gewesen war, nie in den Sinn gekommen wäre, sie mitzunehmen. Obwohl es blödsinnig war, ich wäre mir so vorgekommen, als hätte ich versagt, als hätte ich mein Leben nicht so im Griff, wie ich es selbst von mir erwartet hatte. Ich wünschte die beiden wären direkt nach der Besprechung gegangen, dass ich der jungen Mutter keinen Kaffee angeboten hätte, dann wären sie jetzt vielleicht in Sicherheit. Das Mädchen heißt Cloe und sie hat vor einer Weile aufgehört zu schreien.
Als der Alarm losgegangen war, habe ich nur meine Stirn gerunzelt und Abby beruhigt, ihr selbstsicher erklärt, dass der Hauswart wohl nur vergessen hatte, den Infozettel für die Feuerübung an die Pinnwand zu hängen. Ich hatte das wirklich geglaubt und seelenruhig meine Tasche und den Mantel von der Garderobe geholt. Doch dann hörte ich die Hilferufe von unten. Ich kann mich noch daran erinnern, wie oft ich zu Beginn meiner Kariere hier daran gedacht hatte, wie sehr ich mich davor gefürchtet hatte. Doch irgendwann war der Gedanke daran verschwunden und obwohl er sich nicht in Luft aufgelöst hatte, so war er doch zu einem der vielen Hintergrundgeräusche geworden, die man irgendwann nicht mehr wahrnimmt. Ich bereue das nicht, denn die Angst hätte mir ohnehin nicht geholfen.
Irgendwann kam dann der Knall, als wäre einige Blocks weiter ein Öltank explodiert, aber die Erschütterung war viel stärker. Es war so, als hätte man mir den Boden unter den Füssen weggezogen und es dauerte eine Weile, während der ich regungslos auf dem Teppich neben der Bürotür lag, bis ich endlich begriff, dass es noch nicht vorbei war. Abby wollte aufstehen und in den Flur rennen, doch ich konnte sie gerade noch rechtzeitig am Arm packen und sie nach hinten reißen. Ich schrie sie an, sie solle sich mit Cloe unter meinen Tisch kauern und das hätte sie sicher auch getan, wäre es nicht schon zu spät gewesen. Ich kann mich nicht bewegen aber am Rand meines Blickfelds kann ich das massive Holz meines Schreibtischs sehen und bin froh, dass niemand unter diesen Trümmern liegt.
Die zweite Explosion war viel lauter und die Erschütterung so heftig, dass mir die Luft wegblieb, bevor die Wände meines Arbeitsplatzes zu Staub zerfielen. Instinktiv zählte ich die Stockwerke über und unter uns, doch anstelle davon, einen Fluchtweg zu erkennen, kam nur der Gedanke an tonnenschweres Metall und Beton, die uns begruben. Ich hatte die Hitze noch nicht bemerkt, hatte nicht einmal realisiert, dass ich unter Trümmern lag, sondern rief nur nach Abby, deren Tochter irgendwo laut weinte. Es wäre schön, wenn ich die Hitze noch einmal ausblenden könnte, doch es will mir nicht gelingen und ich warte darauf, dass der Stahlträger über mir meine Haut versengt. Aber am schlimmsten ist die Stille.
Jedem von uns war es am Anfang schwer gefallen, die Dinge, mit denen wir uns tagein und tagaus beschäftigten, nüchtern zu betrachten. Aber früher oder später hatten wir alle lernen müssen, dass wir nur so helfen konnten, dass wir nur so in der Lage sein würden, die Notbremse zu ziehen. Natürlich hatten die meisten nie daran geglaubt, dass es uns wirklich gelingen würde, doch ich habe heimlich meine Hoffnung nie aufgegeben und blieb der Meinung, dass die Menschen meines Heimatlandes irgendwann zur Vernunft kommen würden. Mir war selbstverständlich immer klar gewesen, dass diese Hoffnung lächerlich war, das nur ein behütetes Kind aus dem Mittelstand, so wie ich es gewesen war, aufrichtig daran glauben konnte, dennoch habe ich es immer getan. Der Balken über mir durchbricht die Stille mit ächzendem Getöse und ich bin froh, dass es bald vorbei ist.