Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Marvin wurde von kehligen Würgegeräuschen aus seinem Dämmerzustand aufgeweckt. Er setzte sich langsam auf, versuchte tief durchzuatmen und gönnte sich einige Sekunden der bewegungslosen Ruhe, um seinen Verstand zu klären. Davide saß direkt neben ihm und schien eine rege Unterhaltung mit jemandem zu führen. Seine dunkel gebräunten Hände flogen wild gestikulierend durch die Luft und bei jedem seiner Worte blitzten seine unnatürlich weiß wirkenden Zähne hervor. Marvin klopfte auf seine dreckige Uniformhose und beobachtete wie der Staub, der sich aus dem schweren Stoff gelöst hatte, langsam zu Boden sank und in dem restlichen Unrat verschwand, bevor er sich geschwächt, aber entschlossen erhob. Er schlurfte, sich am Hinterkopf kratzend zu dem kleinen Tisch, welcher in der linken Ecke des Frachtraums stand und auf dem die viel zu bunten Malstifte lagen, die einer der anderen Offiziere hier liegengelassen hatte. Wahrscheinlich war dieser schäbige Tisch ebenfalls eines der vielen Kunstobjekte, von denen er nichts verstand, die vor einigen Tagen in irgendeiner überbewerteten Kunstgalerie, deren Werbeprospekte hier überall herumlagen, hätten ausgestellt werden sollen. Der alte Holzstuhl ächzte, als der Siebenundvierzigjährige sich darauf setzte und erregte Davides Aufmerksamkeit, der immer noch neben einer der Frachtboxen am Boden saß, das Erbrochene neben ihm ignorierend, und scheinbar fröhlich ins Leere starrte. „Marvin? Willst du schon wieder schreiben? Warum spielst du nicht mit uns Karten? Es ist ja nicht so, als würde jemand deinen Roman lesen.“ Wieder blitzte seine weiße Zahnreihe auf, als er Marvin freundlich anlächelte und ihn mit einer einladenden Bewegung zu sich winkte. Dieser ließ sich zwar nicht von seinem Vorhaben abbringen, bemühte sich jedoch um ein ebenso freundliches Lächeln und entgegnete mit tiefer Stimme: „Schon gut Davide. Spiel du nur Karten, ich komme dann, wenn ich hier fertig bin.“ Marvins einst trainierte Arme fühlten sich bleischwer an, als er nach dem dunkelblauen Stift griff.
„Captains Logbuch, Tag 41, Navigationsoffizier: M. Mac Lochlainn.
Gestern Nacht wurde Marla weggebracht. Sie hatte viel Wasser verloren und war irgendwann im Verlauf des Tages ins Delirium gefallen und wir hatten keine andere Wahl, als die Wachen zu informieren. Ich weiß noch immer nicht, wohin sie die Kranken bringen, aber ich werde es bald erfahren. Ich fühle mich schwach und habe Kopfschmerzen, die aber wahrscheinlich von dem beißenden Gestank herrühren. Davide hingegen scheint immer weiter weg zu driften und ich werde seinen Zustand nicht mehr lange verheimlichen können.“
Marvin kannte die Krankheit, er hatte sie während seiner Dienstzeit in der Fremdenlegion in Rwanda kennen gelernt und wusste, dass sie tödlich verläuft, wenn die Betroffenen nicht behandelt werden. Und hier auf diesem gottverlassenen Frachtschiff gab es keine Hoffnung auf medizinische Versorgung. Die wenigen, jedoch bewaffneten Wachen, die sie in den letzten Tagen zu Gesicht bekommen hatten, waren zwar bereit die Erkrankten aus dem Frachtraum zu entfernen, in dem die Crew gefangen gehalten wurde, aber Marvin bezweifelte, dass ein Ärzteteam auf Deck auf sie wartete. Wahrscheinlicher war es, dass sie alle eine lieblose Seebestattung erhalten hatten und das einzige was den restlichen Überlebenden blieb, war der verzweifelte Versuch, ihre Zwangsunterkunft so sauber wie möglich zu halten; eine denkbar unlösbare Aufgabe während eines Choleraausbruchs.
„Ich glaube nicht mehr daran, dass unser Heimathafen den Forderungen nachkommen wird, nicht nach all der Zeit, die wir schon hier drin sind und an unseren eigenen Fäkalien zu ersticken drohen. Dennoch, Davides Glaube scheint unzerstörbar zu sein. Schade, dass ein so guter Mann keine Zukunft haben wird. Schade, dass niemandem von uns eine Zukunft vergönnt war.“
Als Marvin sich daran erinnerte, wie er seinen letzten verbleibenden Leidensgenossen zum ersten Mal angesehen hatte, mit einer Arroganz in seinen grauen Augen, schämte er sich maßlos. Er hätte es besser wissen sollen, hatte er doch neben so vielen Männern gedient, die ihm auf den ersten Blick minderwertig erschienen waren und die schlussendlich allesamt seine Kameraden geworden waren. Doch ein flüchtiger Eindruck des immerzu lächelnden Hilfsarbeiters hatte ihm noch wenige Wochen zuvor ausgereicht, um den jungen Mann als Verlierer abzustempeln und ihm keine Beachtung zu schenken. Das hatte sich natürlich drastisch geändert, nachdem sie hier eingeschlossen worden waren und Marvin erkennen konnte, wie aufopfernd und tapfer sich der junge Philippiner sich um seine Crew zu kümmern versuchte. Marvin drehte sich auf seinem kracksenden Stuhl um und bat Davide, ihm von dessen Schwester zu erzählen; er wusste, dass ihn das immer aufheiterte.
Der Angesprochene unterbrach seinen Dialog mit seinem imaginären Gesprächspartner sofort und verschränkte seine mageren Finger fest vor seinem Herzen. „Ach Marvin, sie ist ein Wunder! Du hast im Leben noch nie ein so schönes, kluges Mädchen wie sie gesehen. Sie wird sicher ein großartiges Leben führen, wenn sie groß ist. Vielleicht wird sie Ärztin oder Anwältin.“ Davide lachte abrupt laut auf und Marvin wusste, was nun kommen würde, hatte er die Geschichte von Davides kleiner Schwester schon so oft gehört. „Weißt du Marvin, als sie drei Jahre alt war, wollte sie ein Ninja werden und zwei Wochen später ein Eisbär.“ Davides Stimme wurde etwas heiser und er musste sich mehrmals räuspern, bevor er weitersprechen konnte. „Aber leider ist sie sehr krank. Ihr Herzmuskel ist schwach, deswegen muss sie sehr vorsichtig sein, aber wenn ich wieder zu Hause bin, dann kann ich für die Operation bezahlen.“
Marvin mochte es, seinem Gefährten zuzuhören und für einen kurzen Augenblick so zu tun, als wären sie nicht hier, sondern irgendwo weit weg von diesem stinkenden Loch, irgendwo wo zwei ungleiche Freunde, bei einem Pint Guinness, ihre Gedanken teilen könnten. Doch dieses Mal konnte er nicht lange in seine Fantasie von frischer Luft und Freiheit verweilen; Davides Erzählungen wurden von heftigem Brechreiz unterbrochen und Marvin dämmerte langsam, dass ihm bald nichts mehr bleiben würde, er seinen letzten Kameraden auch noch verlieren würde. Marvin legte seinen bewusstlosen Freund auf eine der dreckigen Decken, nachdem er vergeblich versucht hatte, ihm etwas vom restlichen Wasser einzuflößen, damit er wenigstens nicht ganz so schnell dehydrierte. Danach setzte er sich wieder auf den klapprigen Stuhl und beschloss, seine letzten Zeilen zu schreiben solange er noch die Kraft dazu hatte.
„Ich weiß nicht, ob das jemand lesen wird, aber ich weiß, dass ich diesen Frachtraum nicht lebend verlassen werde. Wir waren dreiundvierzig Männer und Frauen, dreiundvierzig Leben, die hier vergingen und alles was ich tun kann, ist auf Vergebung zu hoffen. An meine Exfrau, meine Tochter und die Familien aller Seelen hier an Board: Gebt nie auf, seid stolz und treu. Wir alle werden euch immer lieben!“
Marvin legte den dunkelblauen Stift weg und marschierte langsam aber mit festen Schritten zu einer der Frachtboxen im hinteren Viertel des dreckigen Raums, griff hinein und zog ein antikes Bajonett, das er gestern Abend bei seiner Suche nach etwas Essbarem gefunden hatte, aus den Papierschnipseln und betrachtete kurz dessen einzigartige Patina. Als er an Davides leblosen Körper vorbeischritt, bückte er sich und flüsterte: „Auf Wiedersehen mein Kamerad. Honneur et Fidélité.“
Er war nur noch die Karikatur des Mannes der er einmal gewesen war, als er unter der Frachtraumluke stand, das Bajonett fest im Griff, und die Wachen herbeirief.