„Guten Abend, willkommen“, meinte Troy, als Kundschaft, zwei Mädchen in Begleitung eines älteren Mannes, den Gastraum betrat. Er registrierte die Neuankömmlinge lediglich aus den Augenwinkeln. Wie zu der späten Stunde üblich, war außer ihm gerademal ein Koch für die Nachtschicht anwesend. „Setzen Sie sich wo immer Sie möchten.“ Troy war in Gedanken ganz woanders, so wie meistens. Er verbrachte seine Tage vorwiegend in dem kleinen Restaurant oder seiner Wohnung in der Mansarde darüber und abgesehen von Seymour, dem Streuner, der ständig vor der Pizzeria rumlungerte, hatte er kaum Freunde. Sein Leben fand in anderen Sphären statt, in Fantasiewelten jenseits der tristen Realität.
Er brachte den Gästen die Speisekarte, fragte sie, was sie gerne trinken möchten und schlenderte zurück zum Tresen. Das einstudierte Schmunzeln auf seinem Gesicht kam zu keiner Zeit ins Wanken, nicht einmal, als der Sodaspender Zicken mache und ihm Cola anspritzte. Äußerlich völlig ungerührt wischte er die klebrige Flüssigkeit zuerst von der Anrichte, danach streifte er seine Schürze ab und holte sich im Nebenraum vor der Küche eine neue. Innerlich kämpfte Troy ums Überleben.
Einer seiner Feinde hatte es heute Nacht auf ihn abgesehen und er war in einem Moment der Unachtsamkeit in die Falle getappt, vom Säurestrahl erwischt worden. Schmerzensschreie unterdrückend quälte und wand er sich, zwang sich, bei Bewusstsein zu bleiben und sich den schmelzenden Stoff vom Leib zu reißen. In letzter Sekunde gelang es ihm, sich zur Dekontaminationsschleuse vor dem Labortrakt zu schleppen, wo das ätzende Gebräu von ihm abgewaschen wurde. Dann zog er sich eine korrosionssichere Weste über, um sich vor weiteren Attacken zu schützen. Vermutlich hätte er sofort ins Krankenhaus fahren müssen, aber, verdammt nochmal, er hatte einen Job zu erledigen!
Abwesend zog Troy die Schraube am Zapfhahn fest, füllte drei Gläser mit dem zuckrigen Gesöff, balancierte sie zum einzigen besetzten Tisch und stellte sie hin. „Bitte sehr.“ Die Frauen saßen geduckt da, wirkten matt und er hatte den Verdacht, sie könnten Schläfer, verfeindete Agenten, sein. „Haben Sie sich schon etwas ausgesucht?“, wollte Troy erfahren, bemüht darum, seine Tarnung als Pizzamann nicht auffliegen zu lassen. Die Grenze zwischen Wirklichkeit und seinen Tagträumereien war für Troy bloß eine vage Empfehlung.
Der Mann der Gruppe stierte ihn eindringlich an. Seine Nase war seltsam verformt, wahrscheinlich mehrfach gebrochen, mit den grauen Haaren, die ihm oberhalb der Ohren abstanden, sah er ein wenig aus wie ein Koala. Er nickte und bestellte für alle: „Eine große Fungi für mich, die beiden nehmen je eine kleine Margherita.“ Bestimmt war er ein Schlächter, ein Scherge des Panucci-Clans dachte Troy. Geschwind wechselte er von einer Fiktion zur nächsten, wurde zum mächtigen Don Troy, während er vorschlug: „Möchten Sie eine Vorspeise? Wir haben Gurken-Minze Salat mit Mascarpone auf der Tageskarte.“ In seiner Freizeit bezwang er Drachen, untote Monster und winzige Schattenwesen, die gähnenden Menschen in den Mund krochen und in deren Zahnfleisch Nester bauten. Hier im Restaurant war er Geheimagent der Königin von Newoyorkia oder Mafiaboss. Letzteres erschien ihm passend, obwohl die Pizzeria kein Familienbetrieb mit Anbindung zur Unterwelt war, sondern das abgehalfterte Überbleibsel einer einstigen Restaurantkette.
„Haben Sie Knoblauchbrötchen?“, murrte der Mann, hinter dessen starrem Blick Don Troy die Expertise eines Auftragskillers befürchtete.
„Natürlich“, bestätigte er, sein gleichmütiges Lächeln verwandelte sich in ein allwissendes Grinsen. So weit käme es noch, dass er sich im eigenen Revier von einem Panucci zur Strecke bringen ließe.
„Gut. Wir nehmen einen Korb Knoblauchbrötchen.“ Eines der Mädchen gab einen scheuen Laut von sich, Troy verstand sie nicht. „Und einen dieser Salate für …“, der Mann pausierte, schluckte und atmete hörbar ein. „Meine Tochter.“
„Gerne.“ Troy kam ins Stocken, als sie von ihren Händen aufsah, ihn anblinzelte. Sein erster Eindruck hatte ihn nicht getäuscht, die Frau, die der suspekte Typ Tochter nannte, war völlig glanzlos. Allerdings war sie kein Schläferagent, nein, dafür war sie eindeutig zu jung und unter ihrem Makeup schimmerte ein massiver blauer Fleck hervor. „Kommt gleich.“ Damit wandte er sich um, wirbelte regelrecht davon und hastete in die Küche. Die Schwingtür flog auf, pendelte hin und her und Roberto schaute ihn verdutzt an. „Da stimmt was nicht“, ereiferte sich Troy. „Da sitzt einer mit zwei Mädels und ich schwöre dir, mit dem ist was nicht in Ordnung.“
„Nicht das schon wieder“, unterbrach ihn Roberto klönend, trat auf den anderen zu und zupfte ihm den Bestellzettel aus den Fingern. „Gib her.“
„Ernsthaft, Rob.“ Es war nicht das erste Mal, dass er eine böse Ahnung hatte, doch heute war es anders, er war sich absolut sicher. „Der Kerl ist mir nicht geheuer. Ich glaube, die Mädchen brauchen unsere Hilfe. Eine ist grün und blau im Gesicht!“ Troy verhaspelte sich beinahe, ging auf den Koch zu und donnerte mit der Hüfte an die Kante der metallenen Kücheninsel. „Au!“ Er fuchtelte, fasste sich an die Leiste und stieß dabei ein Senfglas zu Boden.
„Scheiße Troy!“, fluchte Roberto und packte den Kellner bei den Schultern, um ihn aus der Küche zu bugsieren. „Ich habe genug von deinen ewigen Wahnvorstellungen. Du kannst nicht wegen jeder Tussi mit Augenringen, die zu blöd ist, Augencreme zu nutzen, einen Riesenaufstand veranstalten.“
„Nein, das ist … Du verstehst nicht, ich bin …“, stammelte er, ehe ihm einfiel: „Ich rufe die Polizei.“
Roberto ächzte entnervt, rieb sich über die Schläfen und marschierte an Troy vorbei in den Gastraum. Erneut polterte die Schwingtür einige Male hin und her, das rhythmische Geräusch hallte in seinem Kopf, mischte sich mit unzähligen Agentengeschichten, Mafiafabeln und Troy erinnerte sich schlagartig an den Ausgang des letzten Polizeieinsatzes. Auch damals hatte er wegen eines dubiosen Gastes Bedenken gehabt, auch damals hatte er ausgeschlossen, dass er sich das Ganze nur eingebildet hatte. Glücklicherweise war der Herr so freundlich gewesen und hatte darauf verzichtet, rechtliche Schritte gegen in einzuwenden. „Das Auge“, murmelte Troy vor sich hin und begann damit die Scherben des Senfglases einzusammeln. „Ihr Auge ist blau und der Typ niemals ihr Vater.“ Womöglich hatten seine Fantasien überhandgenommen. Es war einfach schöner, sich ein spannendes Leben voller Monster, Spione und Mafiosi zurechtzulegen, anstelle davon, die bittere Wahrheit der täglichen Langeweile hinzunehmen. Seufzend ging er in die Hocke und wischte mit einem feuchten Lappen die gelbe Masse auf, verschmierte sie über die Fliesen. „Es ist eines meiner Märchen“, flüsterte er, da eilte Roberto hinter ihm hindurch, eine Scherbe knirschte unter seinen Sohlen. Ohne ein Wort zu Troy zu sagen öffnete er seinen Garderobenschrank, nahm sein Handy hervor und wählte eine dreistellige Telefonnummer.