Jubiläums-Special | 107 Minuten | Lydia und das Telefonat

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Dies ist der 1. Teil der Fortsetzungsgeschichte „107 Minuten“.

Fröhlich den neusten Hit pfeifend schritt Lydia die steinerne Treppe hoch und ließ ihre Hand über das Geländer mit der abblätternden, grünlichen Farbe streifen. Manchmal fand sie den in die Jahre gekommenen Vorstadtblock etwas schäbig, doch das störte die junge Krankenpflegerin nicht weiter, sie wollte ihr Leben so genießen, wie es gerade war und heute würde ihr wirklich nichts die Laune verderben. Vor der in derselben Farbe gestrichenen Tür angelangt, drückte sie mit dem Ellenbogen die Klinke hinunter und schob dann die Holztür mit dem Knie auf, bevor sie in die gemeinsame Wohnung trat. „Schatz, ich bin zuhause“, rief sie ihren Partner Ives zu, der ihr durch die geschlossene Badezimmertür etwas Unverständliches antwortete. Weiter pfeifend schleppte sie die schweren Einkaufstüten in die Küche und stellte sie neben den Schüttstein, bevor sie den Autoschlüssel auf den Barhocker fallen ließ. Ein Blick auf die große Wanduhr verriet ihr, dass es gleich zwanzig nach acht wäre und sie freute sich schon auf das Abendessen, dass sie nach dem strengen Tag mehr als verdient zu haben glaubte.
Als sie begann die Einkaufstüten auszuräumen und die verderblichen Sachen in den Kühlschrank stellte, erschien ihr Freund mit nassem Haar im Türrahmen und fragte sie: „Na, wie war dein Tag?“
„Stressig“, gab sie zurück, fügte dann aber noch hinzu: „Ich freue mich schon aufs Abendessen.“
„Soll ich kochen?“, erkundigte sich Yves, doch Lydia schüttelte den Kopf. „Nein, heute bin sowieso ich dran und so fertig bin ich jetzt auch wieder nicht.“ Gerade als Yves etwas entgegnen wollte, klingelte ihr Handy. Hastig stellte Lydia die letzte Tüte Milch in den Kühlschrank und machte ihn etwas zu schwungvoll zu, bevor sie das Mobiltelefon aus ihrer Jeanstasche kramte und einen Blick auf das Display warf; es war Lea. Ihre Arbeitskollegin und zugleich beste Freundin meldete sich oft bei ihr und meistens freute sich Lydia auf ein gemütliches Gespräch, doch jetzt hatte sie wirklich Hunger. Trotzdem wollte sie den Anruf nicht einfach ignorieren und hatte eine Ahnung, dass es vielleicht wichtig sein könnte, also hob sie das Handy ans Ohr, während Ives grinsend murmelte: „So groß kann dein Hunger auch wieder nicht sein“, bevor er ins Wohnzimmer verschwand.
„Hallo Lea“, meldete sich Lydia mit gutgelaunter Stimme. „Lydia“, begann ihre Kollegin und als sie fortfuhr, konnte Lydia ihrer Stimme sofort anhören, das etwas nicht in Ordnung war: „ich hatte wieder einmal Streit mit Remo.“ Lydia schwieg kurz, unsicher, zu was sie ihrer Freundin raten sollte, während ihr sehnsüchtiger Blick auf den knackigen Salatkopf vor ihr wanderte, der nur darauf zu warten schien, verputzt zu werden. Dies war bei weitem nicht der erste Streit, den Lea mit ihrem Freund hatte und Lydia begriff beim besten Willen nicht, wieso die beiden nicht einfach die Konsequenzen zogen und sich trennten. Doch sie wollte Lea nicht im Stich lassen, also fragte sie schließlich: „Oh je. Was ist denn passiert?“
„Er hat nie Zeit für mich“, entgegnete Lea mit unterdrückter Wut in der Stimme. „Ständig geht er mit den blöden Jungs weg, trinkt Bier und schaut sich dämliche Fußballspiele an!“
„Oh“, murmelte Lea mitfühlend, sie hatte keine Ahnung, was ihr noch zu sagen blieb. So leise sie konnte kramte sie ein Messer aus der Schublade vor ihr, um nachher das Poulet zu tranchieren. Nach kurzem Überlegen schlug sie vor: „Vielleicht solltet ihr in Ruhe darüber sprechen, wenn ihr euch etwas abgeregt habt?“
Sie konnte Lea scharf atmen hören und dachte sich erneut, dass es für dieses Paar an der Zeit wäre, die Sache zu beenden. Zwar sorgte sie sich auch um ihre gute Kollegin, doch bei mindestens einem Streit in der Woche (von dem sie erfuhr) schien einiges im Argen zu liegen. Lea entgegnete jammernd: „Nein, diesmal war es wirklich schlimm! Er muss mich auch mal verstehen und wahrnehmen, ich habe schließlich auch Bedürfnisse, weißt du?“
„Sicher“, antwortete Lydia und zog eine Pfanne aus der Schublade, die sie dann mit einem etwas zu lauten Geräusch auf den Herd stellte. Beschämt, dass Lea ihre geistige Abwesenheit bemerken könnte, hielt sie in der Bewegung inne und atmete flach. Doch statt sie anzufahren erklärte Lea sehr ruhig: „Er hat mich geschlagen.“ Lydia erstarrte und wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte, als Lea hinzufügte: „Und er hat gesagt, dass er zurückkommen wird.“
„Ich komme sofort“, sagte Lydia eilig, während sie sich den Autoschlüssel vom Barhocker griff. „Ich bin gegen neun Uhr bei dir.“
Rasch rief Lydia ins Wohnzimmer, während sie schon ihre Jacke anzog und mit dem Ärmel kämpfte: „Yves! Ruf bitte die Polizei, Remo hat Lea geschlagen! Ich fahre zu ihr.“
„Was?“, kam die erschrockene Antwort ihres Freundes, der sich abrupt von der Couch erhob und seine Cola wegstellte. „Ich komme mit.“
„Sorry, du trägst nur Boxershorts, ich muss schnell machen, wähl lieber gleich den Notruf“, antwortete Lydia und war bereits auf halben Weg zur Wohnungstür, als Yves ihr hinterherrief: „Warte, wie ist die Adresse schon wieder?“
„Käferallee 107“, rief Lydia über ihre Schulter, als sie bereits die Treppe hinunterrannte. Sie wollte rasch zu Lea kommen, bevor noch etwas wirklich Schlimmes geschehen konnte.

Mit ihrem roten Kleinwagen fuhr Lydia mit übersetzter Geschwindigkeit durch die Abenddämmerung in Richtung der Stadt und schaute angestrengt auf die Straße, um kein Hindernis zu übersehen. Ihre Finger trommelten dazu nervös aufs Lenkrad, sie war wirklich unruhig und hatte das Gefühl, das jede Sekunde zählte. Normalerweise war sie eine sehr vernünftige Fahrerin, doch diesmal wollte sie so schnell wie irgend möglich bei ihrer Freundin sein und als sie bei einem Blick auf das Armaturenbrett sah, dass sie in gut fünf Minuten bei Lea sein sollte, drückte sie forsch aufs Gaspedal. Sie wollte keinesfalls zu spät sein, sie hätte es sich nie verzeihen können, wenn Remo ihre Kollegin deshalb noch einmal schlagen oder ihr gar etwas Schlimmeres antun würde. Die Polizei würde sicher auch bald bei der Wohnung eintreffen und dann könnten sie auch gleich Leas Aussage aufnehmen und sie notfalls an einen sicheren Ort bringen. Lydia hatte Lea absichtlich nichts davon gesagt, dass die Polizei kommen würde, so wie sie ihre Freundin kannte, hätte diese sich sicher geweigert, die Beamten hereinzulassen und das wollte sie verhindern. Was um alles in der Welt war passiert, dass der sonst immer so zurückhaltende und höfliche Remo derart ausgerastet war, dachte sie sich. Sie hatte ihn immer für die Ruhe in Person gehalten, einen der friedfertigsten Menschen, die sie kannte – und jetzt das!
Lydia konnte das Vibrieren unter ihren Reifen fühlen, bevor sie sah, was geschah: Auf dem, von einem früheren Regenguss nassen, Asphalt war ihr Wagen ins Schliddern gekommen und sie schrie panisch auf und hämmerte mit ihrem Fuß aufs Bremspedal, als sie unkontrolliert auf einen Baum am Straßenrand zuraste. Nur wenige Augenblicke vor dem Aufprall begriff sie, dass es zu spät war; ihre letzten Gedanken galten Yves, der sich früher oder später fragen würde, wo sie blieb und Lea, die jetzt vergeblich auf die Hilfe ihrer besten Freundin warten würde.

Autorin: Sarah
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2 Gedanken zu „Jubiläums-Special | 107 Minuten | Lydia und das Telefonat“

  1. Die Story beginnt so nett, entspannt, harmlos – und jedes Mal warte ich schon wie eine Hyäne auf das kommende Unglück! Ach, ich mag euch eure Stories >:D…

    1. …und es hat gerade erst begonnen, jetzt trägt dann Rahel ihren Teil zum Choas bei. Danke vielmals und die Tatsache, dass du bereits aufs Chaos wartest, finde ich sehr beruhigend :)
      Read on, Cowboy!
      -Sarah

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