Die anderen halten sich gerne im Greenhouse auf, haben sogar einige Regale umgestellt, damit sie zwei Loungesessel zwischen den Pflanzen platzieren konnten. Ich glaube, es liegt an den Tageslichtlampen, die das Gefühl von Heimat vermitteln. Für sie haftet etwas Wehmut am Gedanken an den blauen Planeten, der schwere Kloß im Magen, wenn sie einmal mehr verstehen, dass es kein Zurück geben wird. Ich hingegen bin nicht trotzdem, sondern genau deswegen hier, fühle mich befreit, wenn ich den winzigen, cyanfarben schimmernden Punkt am Firmament suche und weiß, dass ich nie wieder einen Fuß auf die Erde setzen werde. Das künstliche Tageslicht brauche ich nicht, ich bin zufrieden mit dem rostroten Glanz meines herbeigesehnten Exils.
Meine Mutter erzählte mir mit zwanzigminütiger Verzögerung, sie hätte heute einen Nikolausbart an das Foto von mir geklebt, welches einsam an der schneeweißen Wand ihres Wohnzimmers hängt. Schüchtern gab sie zu, sie würde das erste Weihnachten ohne mein Beisein fürchten und ich erinnerte mich an eine weitere Kleinigkeit, die ich abschütteln durfte. Keine Samstage in dicht gedrängter Feiertagshektik, zwischen Produkten und Konkurrenzprodukten, Liebenden und Lieblosen. Kein Stress, das richtige Geschenk für Menschen zu finden, von denen ich mir wünschte, sie würden meine Zuneigung auch ohne Symbole erfassen. Keine wochenlang geplanten Abendessen mit Gesichtern, deren einzige Verbindung Blut und nicht Bruderschaft ist. Nein, mir bangt es nicht vor dem ersten Weihnachtsabend auf dem Mars, selbst wenn ich die Trauer meiner Mutter zutiefst bedaure.
„Albert, I’m gonna make us some tea, is green alright with you?” Sie trägt schon wieder das zerschlissene, graue Shirt, das ihr beinahe bis zu den Knien reicht. Ob es wohl noch nach demjenigen riecht, den sie zurückgelassen hat?
“Sure, thanks, Naoko.“
Ich mag meine Kameraden, so sehr wie ich Leute eben mögen kann. Wir wurden unter anderem aufgrund unserer sozialen Kompatibilität in dieses Team eingeteilt und wohl dank Deziks Fähigkeiten auserwählt, als erste aufzubrechen. Da fällt mir ein, bis heute habe ich mich nie dafür erkenntlich gezeigt. Er ist Ingenieur, hatte früher Erdölraffinerien gebaut, der perfekte Kandidat, um den Aufbau der neuen Module zu überwachen. Eigentlich könnte ich ihm etwas von meiner Duschzeit abgeben, das freut ihn sicher. Naoko kümmert sich um die Pflanzen und Kalpanas Geschick mit der Technik des Life-Support-Systems ist unbezahlbar. Nur ich erfülle eigentlich keinen wichtigen Zweck, bin mehr Handlanger als Handwerker und dennoch gehöre ich zur ersten Crew.
„What’s that frown about?“, fragt mich Naoko mit gekräuselten Lippen, als sie mir eine Tasse mit dampfendem Tee reicht.
„Oh, it’s nothing. I was just daydreaming”, erwidere ich lächelnd. Der Sencha duftet klebrig-würzig, bestimmt hat sie drei Stück Süßstoff in meine Tasse getan. Wir kennen uns schon so lange und sie weiß, ich trinke den bitteren Grüntee bloß um ihrer Gesellschaft willen. Ich nehme einen winzigen Schluck und hoffe darauf, dass die Stevia-Setzlinge früh genug treiben, ehe uns der Vorrat ausgeht. Doch selbst wenn ich meinen Durst bis ans Ende meines Lebens mit ungesüßtem, garstigem Tee stillen müsste, wäre ich glücklich hier zu sein.
„You can’t fool me, Albert. So, tell me: What’s up?”, ertappt sie meinen Versuch, nicht reden zu müssen. Ich muss mich korrigieren, wir kennen uns nicht nur lange, sondern schon zu lange.
„Same as always“, murmle ich beschämt. Meine Selbstzweifel sind dem Team bekannt, ebenso wie meine Panik vor Spinnen, die Vorliebe für Bambussprossen, die olfaktorischen Eigenschaften meines Zehenkäses und meine bevorzugte Schlafposition. Vor dem offiziellen Startschuss der Mission waren wir gemeinsam im Training, haben die Einsamkeit der arktischen Wüste gemeistert, Fitnesstests bestanden sowie psychologische Evaluationen über uns ergehen lassen. Trotzdem bewahre ich ein Geheimnis nur für mich.
„Right“, beginnt mein Gegenüber seufzend und ich komme mir gleich noch kleiner, unwichtiger vor. „You want me to recite why you deserve to be here with us?“ Naoko klingt keinesfalls genervt, das tut sie nie, vielleicht kann sie das gar nicht.
„No, please spare me the speech“, lache ich aufrichtig in den Tee. Es mag stimmen, das Team wäre ohne mich nicht komplett, der Frieden würde wanken. Rasch hatte ich meine Strategie gefunden, damals vor über zehn Jahren, als der Traum vom Mars nichts weiter als eine grandiose Fantasie gewesen ist. Um zu erreichen, was ich wollte, musste ich zu jemandem werden, der ich nicht war, auch jetzt nicht bin. Nur manchmal, ja, manchmal glaube ich, insgeheim, versteckt vor mir selbst zum extrovertierten Typ geworden zu sein, der sich gerne um die Befindlichkeit anderer kümmert. Es ist das lange Schauspiel, das mir in Fleisch und Blut überzugehen droht.
„We are glad to have you here, Albert“, flüstert sie mit ehrlichem Blick in meine verlogenen Augen. „Our Team would be a hot mess without you.“
“Thank you, Nao.” Ich mag sie, so sehr ich sie eben mögen kann. Immerhin teilen wir dieselbe Entschlossenheit, gar Leidenschaft, auch wenn sie weit mehr dafür geopfert hat, als ich mir überhaupt ausdenken könnte. Deswegen trägt sie auch das graue Shirt, wartet sehnsüchtig auf Nachricht von ihren Lieben und weint sich ab und an in den Schlaf. Wie jedes Mal, wenn sich Gewissensbisse in meinen Geist nagen, will ich mir versichern, dass gerade meine fehlende Verbindung zu meinen Mitmenschen mich bemächtigt, das Netz zu knüpfen, es wenn nötig zu reparieren. „Now, let’s go see what the others are doing, shall we?” Ich klopfe ihr gutmütig auf die Schulter, dann energisch auf meine Knie und stehe auf. Die Decke des Wohnmoduls ist niedrig, also ziehe ich routiniert den Kopf ein, als ich unter dem Leuchtelement durchgehe, Naoko tut es mir gleich, obschon sie gut fünfzehn Zentimeter kleiner ist.
„Hey, Albert“, zwingt sie mich freundlich innezuhalten. Ich gehorche, wende mich um und erhasche ihren neugierigen Ausdruck, welcher mir seit Anbeginn unserer Bekanntschaft Furcht einflößt. „Are you ever going to tell me why you chose to be here?”
“Maybe”, beginne ich leise, „not now though.” Während ich das sage, brodeln Bilder in mir auf, flackern und lodern, bis mir schwindlig wird. Bilder vom Krieg, von haltloser Abscheu, bodenloser Dummheit und der Angst, die den Menschen zu einem scheußlichen Tier macht, die ihn dazu bringt Logik zu verachten, stillzustehen, gar rückwärtszugehen. Bilder meiner eigenen Bitterkeit, der ich zu entfliehen versuche, hier, so weit weg von dieser Kloake namens Menschheit wie nur irgendwie möglich. Es ist nicht etwa Hass, vielmehr die Frustration des Idealisten, die in mir das Verlangen nach Distanz weckte, die es mir einfach macht, so zu tun als wäre ich der ausgeglichene Ruhepol, welcher Crew und Verstand zusammenhalten kann, selbst unter widrigsten Umständen. Ja, sogar bei minus fünfundfünfzig Grad Außentemperatur, in dünner Atmosphäre bei sechs Millibar und fünfundneunzigprozentiger Kohlenstoffsättigung – in kompletter, wunderbarer Isolation, weit ab der blauen Heimat. Einzig das Versprechen darauf, dieses Chaos der selbstzerstörerischen Torheit hinter mir zu lassen, ermöglicht es mir, die Stille des roten Planeten in vollen Zügen zu genießen, die Stürme und den längst ausgetrockneten Flusslauf, dessen Windungen unsere Module umkreisen, mit Freude, ungebändigter Dankbarkeit zu betrachten. Hier bin ich glücklich, hier darf ich forschen, die Sterne sehen, Neuland betreten, sogar auf den Willen meiner Crew vertrauen, Vernunft höher zu werten als Gefühle. Vielleicht macht mich das tatsächlich zu einem wertvollen Teammitglied, zum wahrhaftigen Ruhepol, dessen Behaglichkeit in der schier unerreichbaren Fremde ein klein Wenig auf die anderen abfärbt.
„Come on, you will have to tell me sometime, so why not now?”, bettelt Naoko schmollend.
“It will be my last confession”, lächle ich gutgelaunt, bevor ich sie grinsend am Handgelenk packe und in Richtung Greenhouse zerre. Als mir das Grün entgegenleuchtet, überkommt mich der Wunsch, etwas Lametta an die Bohnenstauden zu hängen, daneben ein Bild meiner Mutter und Freunde aufzustellen, deren Hände ich nie wieder berühren werde. Erlauben werde ich es mir selbstverständlich nicht.