Dies ist der 12. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Hoffe auf das Beste, aber bereite dich auf das Schlimmste vor“.
Barbara stach mit großen Schritten voran, ihr um mehrere Zentimeter geschrumpfter Hintern schwenkte dabei beinahe hypnotisch hin und her, wackelte, wenn ihre Knöchel beim Gehen zitterten. Clint hatte ihr vor einer Weile den Rucksack abgenommen und ging schweigend neben der ergrauten Frau durch den strömenden Regen. Rooster, der Professor und Tess folgten ihnen außer Hörweite. Sie waren nach Marthas und Helens Beerdigung zwei weitere Nächte in der Berghütte geblieben, hatten Kraft getankt sowie Stunden damit zugebracht, auf der Terrasse sitzend ihre Pläne zu besprechen. David und Barb hatten mehrmals angeboten, die Reisenden bei sich aufzunehmen. Man müsse über kurz oder lang zwar den winzigen Verschlag ausbauen, aber das wäre bestimmt kein Problem, sofern alle mitanpackten, hatte das freundliche Ehepaar vorgeschlagen. Die Versuchung war da gewesen, bei ihnen allen, ein Gefühl des Angekommenseins stellte sich allerdings bei niemandem ein und so beschlossen sie, ihr Glück woanders zu versuchen. Tess vermutete, dass Barbara und Clint wegen dem, was mit Martha geschehen war, nicht dortbleiben wollten. Dem Professor blieb keine Wahl, er musste stets an Roosters Seite ausharren und dieser, nun, ihm war es wahrscheinlich schlichtweg zu eng. Weshalb es sie weiterzog, war ihr unklar – ging es ihr tatsächlich darum, zum Flugzeug zu gelangen, ihren ursprünglichen Plan durchzuziehen, oder brauchte sie bloß irgendein Ziel, wenn auch ein unsinniges, um den Verstand nicht zu verlieren?
„Tess.“ Rooster joggte einige Meter, bis er zu ihr aufschloss. „Es dunkelt bald ein, was hältst du davon?”, erkundigte er sich auf die Unterführung zeigend, welche einen Radweg unter der Landstraße hindurchführte. Die Röhre im Fels war schmal, gerade mal breit genug, sodass Rooster seine Arme ausbreiten konnte, dafür ließ sie sich rasch verbarrikadieren und bot Schutz vor dem stürmischen Wetter.
„Gute Idee“, erwiderte Tess nickend, klopfte dem Hünen auf die Schulter, ehe sie Barbara und Clint zurief, sie sollen bitte warten. „Rooster hat einen Unterschlupf für heute Nacht gefunden.“ Gemächlich machten die beiden kehrt. Die Melancholie stand ihnen in die Gesichter geschrieben, nur zeigte sie sich anders. Während Clints Ausdruck einfach traurig wirkte, so spiegelte sich in Barbaras Mine Härte. Tess fühlte sich schuldig, weil sie weder das eine noch das andere empfand, denn auf den Schock folgte Gleichgültigkeit. Sie hatte Helen nicht sonderlich gut kennengelernt, dasselbe ließ sich über ihre Tochter Martha sagen und die intrinsische Kinderliebe, die Clints Herz erst für Jack, dann für Martha und ihre Brüder hatte schlagen lassen, fehlte ihr. Wenn es überhaupt etwas gab, das Tess an dem unglücklichen Vorfall in der Berghütte interessierte, dann waren es pragmatische Gedanken. Sie sollten besser auf ihre Waffen achtgeben, sie unter keinen Umständen aus den Augen lassen und in einer Welt voller herumlaufender Leichen war es wohl kaum ratsam, sich an Märchen vom ewigen Leben zu klammern. Rooster war noch direkter geworden, als er Tess in einer privaten Minute anvertraute: „Das haben sie jetzt davon, dem armen Mädchen was vom Himmel vorzulügen. Man kann es der Kleinen ja nicht übelnehmen, dass sie so schnell wie möglich dorthin wollte.“ Obschon Tess niemals so weit gehen würde, Helen und Mitchel Vorwürfe zu machen, so stimmte sie Rooster grundsätzlich zu. Sich mit der Realität zu konfrontieren, war noch nie zuvor so wichtig gewesen wie heute. Genau deshalb würde sie wohl oder übel bald die Diskussion führen, der sie seit Tagen schon aus dem Weg ging – ihr graute davor.
Clint, Rooster und der Professor waren mehr oder weniger auf der Stelle eingeschlafen, sobald sie ihre Rucksäcke mitsamt den Waffen auf den bemoosten Boden in der Unterführung geworfen hatten. Clint schnarchte als einziger leise, sabberte dafür auf den Kragen seines abgetragenen Hoodies.
„Soll ich es sagen?“, hörte Tess die Stimme der Grauhaarigen. Verwunderte wandte sie ihren Blick von ihrem schlummernden Freund ab. Die tiefstehende Sonne strahlte Barbara von hinten an, sodass Tess sie als Silhouette sah und ihren Ausdruck bestenfalls erahnen konnte. Selbstverständlich wusste sie, wovon Barbara sprach, obwohl sie wünschte, sie könnte die Ahnungslose spielen.
„Nein“, erwiderte sie brummend. „Das Geringste, das ich tun kann, ist dazu zu stehen. Das bin ich dir schuldig.“ Barbara nickte. Ihre krausen Strähnen leuchteten im kalten Gegenlicht, sie waren feucht vom Regen, der erst vor kurzem aufgehört hatte. Tess holte Luft, schloss die Augen, dann endlich gelang es ihr, den Mund zu öffnen: „Barbara, ich glaube es wäre besser, wenn du gleich morgen früh zurück zur Hütte gehst. Die Strecke ist beschwerlich, wir wissen nicht, was unterwegs auf uns wartet und du bist nicht mehr die Jüngste. Du hältst uns zurück.“ Da war es. Sie redete ohne Unterbruch, brachte es hinter sich.
Es blieb einige Sekunden absolut still in der Unterführung, dann begann Barbara heiser zu lachen. „Ach, Liebes“, meinte sie und hustete, ehe sie fortfahren konnte. „Noch immer der harte Hund, was? Wir beide wissen, der Grund ist ein anderer. Du machst dir Sorgen um mich.“
Tess lächelte, war froh, dass Barbara eine der Freunde war, die selbst die falschen Worte richtig versteht. „Durchschaut.“
„Tja, was soll ich sagen? Du hast Recht. Ich muss zugeben, ich rechnete damit, aber ich wollte es einfach probieren, herausfinden, ob ich es noch schaffen könnte. Nimm es mir bitte nicht übel“, erklärte Barbara schmunzelnd.
„Ich habe nichts anderes von dir erwartet, Barbara. Keine Chance bleibt ungenutzt.“ Tess fühlte die Wehmut in ihr aufsteigen. Die Aussicht darauf, ohne Barbara weiterzugehen, widerstrebte ihr. Sie würde die Courage dieser alten Dame fürchterlich vermissen, dennoch war sie erleichtert, Barbara einsichtig zu erleben. „Es tut mir leid. Wir kommen morgen ein Stück mit dir mi…“
„Nein. Ich gehe jetzt gleich. Der Weg ist sicher und ich habe eine Taschenlampe. Die Verabschiedung von Clint … Tess, bitte pass auf ihn auf. Er ist anders wie du und ich, er schafft es nicht alleine, braucht jemanden.“
„Werde ich, so gut es mir möglich ist.“ Wieder nickte Barbara. „Es war mir eine Ehre, mit dir durch die Apokalypse zu reisen, du alter Haudegen“, sagte sie und reichte Barbara die Hand, welche diese ergriff, Tess an ihre Brust zog und sie fest umarmte.
„Wenn du an mich denkst und dir Sorgen machst, dann lass es. Ich bin in Alaska geboren und aufgewachsen, egal was passiert, mir geht es gut. Viel Glück, Liebes!“