Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Da kümmert man sich extra um den Stromanbieterwechsel, um Geld zu sparen, schließt neue Versicherungen ab und dann das“, knurrte Martina und schaute auf das sonnengeflutete Dörfchen unter ihnen und das angrenzende blaue Meer. Einige Tauben gurrten über ihnen auf dem Dach und sie genoss die Brise auf ihrer Haut. Thorsten schlurfte hinter seiner Frau auf den Balkon und legte ihr einen Arm um die Schultern: „Ach Schatz, wenigstens sind wir in Griechenland, hätte ja schlimmer kommen können – auf einer Städtereise zum Beispiel. Dieses Kaff ist verhältnismäßig abgelegen.“
„Trotzdem, ich sorge mich um Frederike und die Enkelkinder“, seufzte Martina und nahm auf einem der beiden Plastikstühle des schäbigen Hotels Platz und verkrampfte ihre Hände um die Sitzlehnen. „Ob sie noch leben?“
„Hmm, tja“, stöhnte Thorsten, stellte das Jagdgewehr ans Geländer und ließ sich auf den zweiten Stuhl fallen, der ein gequältes Knarren von sich gab. „Du kennst die Antwort darauf schon seit langem, Schatz.“ Ruhig fügte er hinzu, an ihre abwesende Angehörige gewandt: „Du warst eine gute Tochter, Frederike. Und eine tolle Mutter unserer Enkelkinder: Nicht mehr als fünf Stunden Videospiele in der Woche, absolutes Tattoo-Verbot, bis sie achtzehn sind und genug Gemüse auf dem Teller. Ruhe in Frieden.“
Martina starrte ihren Mann für einige Sekunden entgeistert an und rügte ihn anschließend: „Wir wissen nicht, was zuhause los ist, sei nicht so herzlos!“
„Du hast vor zwei Monaten, als das Radio noch lief, auch gehört, Stuttgart sei platt. Atombombe oder sowas. Futsch und weg. Unsere Familie tot. Inklusive deiner hübschen Orchideen auf der Fensterbank und deiner Sammlung von Porzellankühen. Alles Asche, kannst du vergessen. Hätten wir das zum Voraus geahnt, hätte Frederike die Kinder mehr Videospiele zocken lassen können.“
„Ich weiß. Wir gehen alle anders damit um.“ Martina gab ein melancholisches Murren von sich und rieb ihre Hände aneinander, als wäre ihr kalt. Ihr war klar, Thorsten hatte recht, sie waren die letzten Überlebenden ihrer Familie. Manchmal wünschte sie sich seine offensichtlichere Trauer der vergangenen Monate zurück. Die kalte Sturheit, die der pensionierte Beamte seither an den Tag legte, setzte ihr zu. Schließlich wechselte sie das Thema, konzentrierte sich auf etwas produktiveres: „Gehen wir morgen runter zum Strand?“
„Ja, gute Idee“, meinte Thorsten bedeutend besser gelaunt. „Wir sollten wieder angeln, sonst ernähren wir uns bloß von den Dosen aus der Hotelküche. Ich vermisse das Kürbischutney des Chefkochs, das war saumäßig lecker. Schade, war er einer der ersten Toten, hätte er doch das Rezept dagelassen. Haben sie den nicht sogar ins Spital gebracht?“
„Jaja. Er war schon alt, vermutlich fiel er der Triage zum Opfer, bevor das Krankenhaus überrannt wurde. Tragisch Sache“, nuschelte sie eher desinteressiert. Martina war längst gegen das Leid desensibilisiert, wenn es nicht gerade um ihre Familie ging. „Na ja, egal, solange es noch Dosen hat, lohnt es sich, im Hotel zu bleiben.“
„Hier ist es sowieso wärmer als in Deutschland, wir könnten den Urlaub bis an unser Lebensende verlängern. Flüge sind sowieso alle gestrichen“, schlug Thorsten amüsiert glucksend vor. „Ist ja nicht so, als hätten wir Gesellschaft für gemütliche Gespräche, um die Sprachbarriere müssen wir uns also keine Gedanken machen.“
„Ich sehe, was du me…“, Martina unterbrach sich, sprang auf und gestikulierte auf den mehrere Häuser entfernten Dorfplatz. „He, ist das nicht der Dingens … der Dingsbums? Du weißt schon, unser Kellner?“
Hurtig schnappte sich Thorsten das Gewehr und stand auch auf. „Ja, ich glaube, der hat im Hotelrestaurant gekellnert. Keine Ahnung, wie der hieß.“ Er kniff die Augen zusammen, um den Mann besser zu sehen und brüllte: „Hallo? Hallo!“
Der andere wandte sich um und machte sich langsam die gepflasterte Gasse entlang auf den Weg zu ihnen. „Ist er …?“, wollte Martina mit einer leisen Spur der Hoffnung in ihrer Stimme erfahren, ohne es auszusprechen. Thorsten beobachtete den Gang des Kellners und bestätigte ihre Befürchtung: „Ja.“ Damit legte er mit dem Jagdgewehr an, harrte aus, bis er sich sicher war, den Kopf des anderen zu treffen, und drückte ab. Ein Knall hallte über den Balkon, Tauben auf dem Dach flatterten auf, Martina hielt sich die Ohren zu und der leblose Körper des Kellners fiel vornüber aufs Kopfsteinpflaster. Rasch lud Thorsten das altertümliche Gewehr nach, stellte es zurück und setzte sich wieder hin. „Ruhe in Frieden. Ich verbrenne nachher den Körper so die anderen, das Dorf soll hübsch sauber bleiben“, murmelte er und fügte fröhlich an: „Was für ein Schwein, hatte der Hotelier ein Jagdgewehr mit ordentlich Munition in seiner Wohnung, was? Wird bestimmt für’s ganze Dorf reichen, wir haben noch über hundert Schuss.“
„Unser Glück war vor allem, wie schnell dieser ganze Schlamassel vonstattenging und er keine Zeit hatte, seine Munition zu verballern. Ich hoffe dennoch, dass nicht mehr kommen, das Dorf dürfte bald leer sein, aber irgendwo tauchen immer wieder welche auf.“
„Sind nur Nachzügler, viele sind’s nicht“, beruhigte Thorsten sie. „Und solange es Fische zu fangen gibt, sind wir einigermaßen versorgt. Wir sollten uns vielleicht mal die Gärten im Ort ansehen, neues Gemüse anpflanzen und so weiter. Wir sollten mehr an die Zukunft denken, statt nur einzusammeln, was es hat.“
Martina begann zu schwärmen: „Ja, genau, Tomaten, das wäre toll.“
„Igitt, Tomaten. Aber generell eine gute Idee.“ Abrupt erhob sich Thorsten. „Weißt du was? Das machen wir jetzt. Wir gehen deine ekligen Tomaten und leckeren Broccoli pflanzen.“
„Und was, wenn es Zombies in den Gärten hat?“, erkundigte sich Martina und erschauderte bei dem Gedanken.
Mit einem Lachen schüttelte Thorsten den Kopf. „Solange du die Machete nicht vergisst, musst du dir keine Sorgen machen. Die gehört in einer solchen Pandemie zur Grundausstattung. Dann passt das schon.“