Hank Morgan war nicht sein richtiger Name, doch er war der Meinung, dass dieser Name gut zu ihm passte. Er hatte ihn sich an dem Tag gegeben, an dem er als junger Bursche im Gymnasium entschieden hatte, Novellist zu werden; Romanautoren schienen ihm zu der Zeit zu gewöhnlich zu sein. Doch seit drei Wochen hatte er ein weiteres Pseudonym angenommen, eines das ihn immer tiefer in Schwierigkeiten gebracht hatte und ihn letztendlich hierhin, auf ein verlassenes Fabrikgelände, geführt hatte.
Erschöpft zog er die Kapuze seines anthrazitgrauen Dufflecoats über seine mittlerweile melierten halblangen Haare und sah dadurch wesentlich jünger aus, als er es eigentlich war. Er schloss die Hornknöpfe mit zittrigen Fingern und blickte sich hastig in der kahlgeräumten Lebensmittelfabrik um, in welcher er vor nun beinahe eineinhalb Stunden Unterschlupf gefunden hatte. Hätte er doch nur ahnen können, dass diese Geschichte sich so entwickeln würde, dann hätte er sich dazu gezwungen, die spöttischen Bemerkungen des alterslos wirkenden Mannes in den zu engen Hosen zu ignorieren und dann wäre er auch nicht in diese Bredouille geraten. Doch natürlich hatte er sich von seinem irregeleiteten Stolz übervorteilen lassen und so war es ihm unmöglich erschienen, die Begegnung mit diesem frechen Taugenichts einfach zu vergessen, ihn zu bezahlen und friedlich von Dannen zu ziehen. Er wollte, nein, er konnte nicht glauben, dass er, der große Schriftsteller, so unverschämt und offen von einem nichtsnutzigen, kleinen Dealer verhöhnt wurde. Er, von allen Leuten die sich des Nachts an Bushaltestellen rumtrieben um Marihuana zu kaufen, war wohl der Letzte über den man sich lustig machen konnte! Er war schließlich ein außerordentlich gebildeter, begnadeter und zukunftsweisender Künstler, der in den besten Kreisen verkehrte und dort wegen seines Talents, seines exquisiten Stils und seiner unfehlbaren Kunstkenntnis höchstes Ansehen genoss. Dass Hank Morgan in Wahrheit lieber seichte Popmusik anstelle von Jazz hörte, lieber Comicbücher als die großen Klassiker las und den Rotwein, den er zu lieben vorgab, Zuhause heimlich mit Glühwein ersetzte, spielte bei der Sache überhaupt keine Rolle, schließlich wusste dieser verlauste Junge nichts von alldem.
Eine viel zu große Ratte rannte zielstrebig vor Hank Morgans ausgestreckten Beinen vorbei, doch er bemerkte sie nur nebenbei und dachte daran, was seine Freunde wohl von ihm denken würden, wenn sie nach seinem Ableben all seine kleinen Geheimnisse in seiner Wohnung finden würden. Würden sie ihn wohl genauso auslachen wie der blonde Kerl mit dem all das hier angefangen hatte, wenn sie seine Madonna CDs finden würden, die er sorgfältig in einem Bildband über Bootsbau versteckt hatte, oder würden sie diese Fundstücke lediglich als Ausdruck seiner intellektuellen Exzentrik verstehen? Er erinnerte sich daran, wie seine begabten und durchaus ansehnlichen Freunde ihn mitleidig belächelt hatten, als er ihnen von seiner neuen Stelle als Dozent berichtet hatte; sie hatten sich nicht einmal bemüht, ihr Missfallen und ihre Belustigung über sein Scheitern als Autor zu verschleiern.
So kam es, dass Hank Morgan sich im Recht gefühlt hatte, als er den unhöflichen Mann drei Tage nach seinem Drogeneinkauf konfrontiert hatte und diesen mit der Drohung, die Polizei auf ihn aufmerksam zu machen, erpresst hatte, um an dessen Kontakte zu gelangen. Er hatte alles bis ins kleinste Detail geplant, so als würde er sich auf das Schreiben einer neuen Geschichte vorbereiten und war sich sicher, dass er alle Variablen in Betracht gezogen hatte. Als eifriger, wenn auch nur mäßig erfolgreicher Schriftsteller war ihm klar gewesen, dass sein Plan möglichst simpel sein musste um zu funktionieren und dass er seinen Protagonisten, sein eigenes Pseudonym, sorgfältig entwerfen musste, damit er authentisch wirkte und so wurde er zu Peter Masters. Dieser war, ganz im Gegensatz zu Hank Morgans Persona, ein wagemutiger aber dezenter Mann, bereit sich seinen Weg an die Spitze der Drogenmafia zu erkämpfen und dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen, nur damit er die kriminelle Organisation, die seine geliebte Frau auf dem Gewissen hatte, von innen heraus zerstören konnte. Hank Morgan war sich sicher, dass Peters Geschichte so ablaufen würde, wie er sie geplant hatte und zweifelte nicht einen Moment an seinen Fähigkeiten, sich in ein ihm fremdes Umfeld einfühlen zu können – schließlich war er Schriftsteller. Peter Morgan würde sich nach und nach an die grösseren Fische im Teich herantasten, indem er die kleinen erpresste. Das hatte einfach sein sollen, schließlich würde keiner dieser unterbezahlten Junkies seine Freiheit riskieren, nur um die Bosse zu schützen. Danach hatte er sich in den besseren Kreisen der Verteiler mit einigen gewagten, aber außerordentlich intelligenten Ideen etablieren wollen, Ideen die er während einer kurzen Internetrecherche über Marketingstrategien gefunden hatte. Mit den aus seinen Methoden resultierenden Erfolgen, so hatte er geglaubt, würde er Stück für Stück die Loyalität der Verteiler erhalten und bald schon hätte er die Gelegenheit, die Organisation für sich zu gewinnen. So hatte zumindest sein Plan ausgesehen und als Hank Morgan noch vor wenigen Wochen vor seiner Wohnzimmerwand gestanden war und sich die wild verstreuten Notizzettel angesehen hatte, konnte er keinen Fehler, keine vergessene Variabel in seinem Plot erkennen.
Ein etwas zu lautes Seufzen entwich Hank Morgans Kehle und verhallte zu einem beinahe obszönen Stöhnen in der leeren Lebensmittelfabrikhalle, als er die letzten Wochen Revue passieren ließ. Es würde nicht helfen, sich weiter einzureden, er wäre ein guter Autor gewesen und er hätte sich der Tatsache stellen müssen, dass er kläglich gescheitert war, noch bevor er richtig hatte loslegen können. Sein Charakterdesign war zu flach gewesen; Peter Masters Identität wurde schon vom ersten Verteiler in Frage gestellt, mit dem er in Kontakt kam und Hank Morgans Geschichte wiederholte sich. Die Männer hatten sich über ihn lustig gemacht, hatten sich sogar erdreistet ihn vor die Tür zu werfen und als Hank Morgan auf dem kalten Asphalt lag und dem Herbstlaub zusah, das sich langsam von den Bäumen löste, wurde ihm klar, dass die Zeit für subtile Intrigen vorbei war. Also hatte er sich bei derselben Bushaltestelle an der alles angefangen hatte, nach einem Waffendealer erkundigt, hatte sich ausgerüstet und sich dazu entschlossen, seine Wut und seine Frustration über die fehlerhafte und erniedrige Art und Weise wie er behandelt wurde, nicht mehr zurückzuhalten. Hank Morgan war erstaunt gewesen, wie einfach es war erneut Kontakt mit den unverschämten Mafiosi aufzunehmen und seine Freunde, die ihn nie wirklich als das Genie erkannten, welches er zu sein glaubte, konnte er dank sozialen Netzwerken nicht nur leicht bespitzeln, sondern auch rasch kontaktieren.
Seine Füsse wurden langsam kalt. Hätte er doch bloß daran gedacht, seine Kaschmirsocken anzuziehen, nun würde er mit eisigen Zehen sterben müssen. Hank Morgan wurde langsam ungeduldig und überlegte sich, ob er einige seiner selbsterklärten Todfeinde anrufen sollte um zu fragen, weshalb sie sich so verspäteten. Doch er entschied sich dagegen; soweit würde es nicht kommen, dass er diesen überheblichen Arschlöchern hinterhertelefonieren würde. Also stand er auf um sich ein wenig die Beine zu vertreten, in der Hoffnung das würde seinen Körper wieder etwas aufwärmen und schlenderte durch die Halle zu den liegengelassenen Gerätschaften, die vor einer prachtvoll dekorierten Wand standen. Hank Morgan hatte sich schon immer gerne diese modernen Wandgemälde angesehen und war sich sicher, dass er auch ein guter Graffiti-Künstler hätte werden können; immerhin war er Autor und konnte zu jeder Person werden, die er hätte sein wollen. Doch Hank Morgan hatte sich wieder einmal überschätzt und so reagierte niemand auf seine Einladung und keiner der Menschen, sie sich über ihn lustig gemacht hatten, erschien in der leeren Lebensmittelfabrik um von ihm, während eines fein säuberlich vorbereiteten Amoklaufs, zur Strecke gebracht zu werden. Sie kamen weder für Hank noch für Peter und er weigerte sich zu überlegen, ob sie vielleicht für Matthias Escher, den einzigen Sohn seiner Mutter, gekommen wären.