Verdient

Ich habe seit mehr oder weniger einer Stunde Feierabend. Laut der Schichteinteilung jedenfalls, denn in Wahrheit bin ich gerade erst auf dem Weg zu einer der Mitarbeiterlounges des CERN, wo ich mich für die Pause mit Kaffee und einem Brötchen versorgen will. Länger zu arbeiten macht mir natürlich nichts aus, wieso sollte es auch? Ich liebe meinen Job, selbst dann, wenn ich nur Daten zu überwachen habe und andere die Experimente durchführen. In meiner Branche dauert es eben einige Zeit, bis man sich das Privileg verdient hat, selbst mit den hochsensiblen Geräten hantieren zu dürfen – oh, wie ich mich darauf freue!
„Hello, you’re still here?“, begrüßt mich Timothy, dessen Augenringe verraten, dass auch er Überstunden leistet.
„Yeah, we’re still preparing the new trials“, murmle ich, während ich mir eine Tasse schnappe und zum Automaten schlendere. Durch das einzige Fenster des Zimmers sehe ich eine Tannenspitze im Wind schaukeln, es wird wahrscheinlich demnächst regnen.
„Have you heard about Mat Taylor, the ‚Rosetta‘ scientist who was harassed because of his shirt with the scantily clad ladies?“
Nickend seufze ich laut, ärgere mich über die Modepolizei. „So incredibly stupid.” Tim schmunzelt, ist erkennbar erleichtert. Nachdem wir einige Verbindlichkeiten ausgetauscht haben, wendet er sich zum Gehen. Auf der Schwelle zum Laborkomplex bleibt er stehen. „Hey, there are some students coming later”, erwähnt er kleinlaut. „Could you greet them and tell them where to wait? Chris is going to pick them up as far as I know.“
„Sure”, gebe ich zurück, dann kann ich mich meinem Brötchen widmen.

Keine zehn Minuten später, mein Kaffee ist noch warm, trudeln die ersten Studenten in Grüppchen von zwei bis fünf Leuten ein. Ich begrüße sie höflich, wenn auch desinteressiert und weise sie an, Platz zunehmen. Es ist ein wahrlich typischer Uni-Ausflug. Dem geschätzten Alter nach zu urteilen sind es Zweit- oder Drittsemester, die auf den Geschmack der wissenschaftlichen Arbeit kommen sollen.
„Nina“, spricht mich eine bekannte Stimme an, „schön dich zu sehen.“
„Hallo Professor“, grinse ich dem ergrauten Herrn entgegen. Kennen tun wir uns kaum, ich habe lediglich einige wenige seiner Vorlesungen besucht, dennoch herzt er mich, als wären wir eng befreundet, ehe er sich zu einem der Studenten dreht. Verunsichert darüber, ob ich nun mit den Besuchern auf Chris warten soll, schenke ich mir Kaffee nach und lasse mich am Rande einer kleinen Frauengruppe nieder. Das aufgeregte Durcheinanderreden vermischt sich mit dem Brummen der Belüftungsanlage. Es klingt so, als surrte eine große Drohne durch den Raum. Zwar will ich niemanden belauschen, trotzdem dringen hin und wieder Gesprächsfetzen an mein Ohr, die mich allerdings nicht im Geringsten interessieren, bis …
„… viel getan werden, bis Frauen in unserem Land gleichberechtig sind!“, höre ich wie sich eine junge Studentin mit violett gefärbten Haaren empört. Zum zweiten Mal an diesem Tag erwischte ich mich dabei, über dieses leidige Thema zu seufzen. „Die Naturwissenschaften sind durchweg frauenfeindlich“, proklamiert die Bunthaarige weiter. „Eine Schande ist das!“ Still verharrend überlege ich mir, wie ich am besten in einen anderen Winkel der Lounge käme, ohne entdeckt zu werden. Ich kenne das bereits zur Genüge, weiß, sobald sie mich, eine Frau, erspähen, werde ich in sinnlose Diskussionen verwickelt. So leise wie möglich ergreife ich meine Tasse, stehe auf, da vernehme ich das Unheil: „Oh, seht mal. Hallo, Sie da, sind Sie Wissenschaftlerin?“ Scheiße!
Gequält zwinge ich mir ein Lächeln auf, welches vermutlich eher so wirkt, als hätte ich gerade eben meine Nase in ein Päckchen Niesspulver gesteckt. „Hallo“, presse ich zwischen meinen Lippen hervor und bejahe schließlich, in der Hoffnung, schleunigst wegzukommen.
„Ach, wie toll“, freut sich die eine in den ausgewaschenen Jeans, während die anderen beiden mich hocherfreut anstrahlen, so als hätten sie gerade eben ein Einhorn gefunden. Schade, dass meine Einhornqualitäten zu wenig ausgeprägt sind, um mir eine pastellfarbene Fellpracht zu zaubern. „Dürfen wir Sie etwas fragen?“
„Nun, ich sollte langsam mal los, doch Professor Doktor Chris Neustädter wird gleich da sein und Ihre Fragen beantworten“, erkläre ich steif.
„Pah“, macht die eine mit den zerbeulten Hosen, eine andere schüttelt den Kopf, die mit den violetten Haaren behält ihren überaus freundlichen Gesichtsausdruck bei und klärt mich auf: „Es würde uns sehr freuen, mit einer Wissenschaftlerin“, sie betont die Wortendung, „sprechen zu können. Sie verstehen, einem weiblichen Vorbild.“ Ihre Präsenz ist einnehmend, das muss ich ihr lassen. Die implizite Aussage, für Mädchen sowie Frauen seien männliche Idole keine Option, stimmt mich dagegen traurig – Wo wäre ich heute, hätte ich mich als Kind um das Geschlecht von Bill Nye oder Peter Lustig geschert, wem außer mir selbst gäbe ich mir nun die Schuld für diesen Verlust, diese Torheit? „Bitte.“
„Na schön“, flüstere ich uns setze mich wiederwillig auf den Stuhl. „Was wollt ihr denn wissen?“

Geschlagene zehn Minuten höre ich mir ihre Argumente schon an, das sind zehn Minuten voller repetierter Parolen, die irgendwo zwischen halbwegs glaubwürdig bis hin zu vollkommen absurd, teils sogar äußerst diskriminierend lagen. Einen Vorwurf mache ich den dreien dafür nicht, sie verteidigen ihren Standpunkt mit der Leidenschaft eines Forschers. Leider fehlt ihnen die Einsicht, dass zum Forschersein auch die Fähigkeit gehört, seine eigenen Thesen konstant  auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen – das wird noch, hoffentlich zumindest. „… feindliches Umfeld für Frauen, stimmt‘s? Es ist sicher sehr schwierig für Sie“, beendet die Rednerin der Gruppe ihren Monolog. Wie so oft bei solchen Unterhaltungen wird keineswegs mit, sondern zu mir gesprochen, gefragt ist anders als behauptet wird nicht etwa meine Erfahrung. Meine Meinung zählt ohnehin ausschließlich dann, wenn sie mit der ihren übereinstimmt.
„Das kann ich so nicht bestätigen“, erwidere ich. „Diese Einrichtung ist sogar sehr zuvorkommend, wenn es um geschlechterspezifische Anliegen geht. Gerade im Teilzeitbereich haben …“
„Ich sehe schon“, werde ich schnippisch unterbrochen. „Sie sind einer Gehirnwäsche unterzogen worden.“ Damit ist der Diskurs zu Ende, ehe er richtig angefangen hat – egal was ich erzähle, welche Beispiele ich anführen, für die drei bin ich bloß eine Puppe, die Marionette der maskulinen Obermacht und meine eigenen Eindrücke sind allesamt unwichtig. Obschon sie mich behandeln wie eine hirnlose Figur in ihrem politischen Kampf, schulde ich ihnen in ihren Augen Loyalität, schlichtweg weil wir dieselben Genitalien haben – lächerlich!
„Na gut, wenn ihr meint. Dann verabschiede ich mich.“ Es hat keinen Sinn, denke ich mir, mich nach dem Labor sehnend. „Professor Doktor Chris Neustädter wird bald eintreffen.“
„Ihr Vorgesetzter, nehme ich an“, keift diejenige, die bislang still geblieben ist. „Wissen Sie in etwa, wie viel mehr er verdient, nur weil er ein weißer Mann ist?“ In Gedanken sehe ich meine Geduld zerschellen.
„Er ist mein Vorgesetzter, ja. Er verdient besser, weil er weitaus länger im Forschungsfeld ist, mehr Verantwortung übernehmen muss sowie …“
„Wie viele weibliche Vorgesetzte haben Sie denn?“, wird mir neuerlich ins Wort gefallen. Sofort fallen mir all meine Kolleginnen ein, die Forschungsleiterinnen, sämtliche –innen, die sich tagtäglich im CERN aufhalten, ihren Beitrag leisten. Ob sich wohl eine von denen über solche Nichtigkeiten Gedanken macht?
„Mir ist unklar, wieso das von Bedeutung sein soll.“ Mein Trotz kommt mir teuer zu stehen, merke ich, denn ich werde postwendend verspottet.
„Ja, sind Sie denn begriffsstutzig? Es ist offensichtlich! Der Sexismus ist lebendig in den Naturwissenschaften, siehe Matt Taylor.“
„Sie meinen, weil er Hawaiihemden mit Amazonen darauf trägt?“, reagiere ich schlussendlich ungehalten. „Glauben Sie ernsthaft, jemand der sich von einem Hemd abschrecken lässt, hat das Zeug zum Wissenschaftler, pardon, zur Wissenschaftlerin?! Nein, unterdrückt wird niemand, es sei denn, Sie verstehen es als Diskriminierung, wenn von Ihnen dasselbe Engagement, derselbe Einsatzwille, dieselbe intellektuelle Stärke erwartet wird, mit Kritik klarzukommen, wie von allen anderen.“ Dafür ernte ich Gelächter, ideologisch motiviertes Gelächter frei von Reflektion. „Zudem: Gäbe es tatsächlich Anlass zur Vermutung, dass Frauen benachteiligt werden, so steht die Gesetzgebung unseres Landes vollumfänglich dagegen ein.“ Das Gekicher ebbt ab. Die Stirn in Falten gelegt, werde ich belehrt, wir Frauen haben zusammenzuhalten, das würde ich schon noch kapieren, dann wäre ich ihnen dankbar.
„Zusammenhalten“, pruste ich amüsiert. „Sie behandeln mich wie einen Gegenstand, auf den Sie ihre Versagensängste projizieren. Ich bin Ihr Spielball in einer Debatte, welche in Teilen der Welt sehr wohl notwendig, hier hingegen äußerst destruktiv, segregierend ist. Meine männlichen Kollegen werden unter Pauschalverdacht gestellt, ihre Arbeit geringgeschätzt, als ‚Privileg‘ abgetan und von mir erwartet, dankbar zu sein? Echt jetzt?!“ Ich atme tief durch, verfluche mich für den Ausbruch. Wieso bin ich nicht gegangen? „Ihr Verhalten ist“, hole ich abermals aus, „auf tragisch-komische Art diskriminierend, feindlich und respektlos.“ Die drei spotten erneut unisono los.
„Respekt?“, gluckst die eine, „Solange Frauen in den Wissenschaften nicht respektiert werden, tue ich diesen Arschlöchern den Gefallen auch nicht.“
„Respekt, meine Damen, verdient man sich. Mit harter Arbeit, einem guten Charakter, statt mit fadenscheinigen Ausreden oder permanenter Nörgelei. Ihr wollt Respekt, dann verdient ihn euch, so wie Professor Doktor Neustädter, so wie meine Kollegen und Kolleginnen, so wie ich.“

„Nina, was hast du angestellt?“ Chris schlurft zu ihrem Platz und reicht ihr ein Croissant „Drei Studentinnen haben sich über dich beschwert.“ Hinter ihm kommt Gisela angelaufen, in der einen Hand hält sie eine große Mappe, die andere streckt sie im Vorbeigehen zum High Five. Zögerlich schlage ich ein.
„Aha.“ Ich schlucke. „Bekomme ich deswegen das Gipfeli?“
„Offiziell, nein. Dich für diese Aktion zu loben wäre positive Diskriminierung, einen Mann müsste ich nämlich rügen.“ Er zwinkert und klopft mir kräftig auf die Schulter. „So, für heute ist Feierabend. Bis morgen.“

Autorin: Rahel
Setting: CERN
Clues: Drohne, Schwelle, Niespulver, Tannenspitze, Winkel
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