Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Schaut ganz okay aus.“ Stolz betrachtete Lounis den Verkaufsraum, drehte dabei der letzten unordentlichen Ecke den Rücken zu.
„Absolut“, bestätigte sein erster und bisher einziger Angestellter. Alexander ging ins Gymnasium und wollte mit Teilzeitarbeit etwas dazuverdienen, um seine Eltern zu entlasten. Ein guter Junge, wie Lounis fand, einer, dem er zu gerne einen Job gab, mal davon abgesehen hätte er sich sowieso keinen anderen leisten können. Eigentlich konnte er das noch immer nicht, sein Schwiegervater hatte ihm das Geld für die Mietkaution geliehen und die Möbel hatte der Vormieter dagelassen, als er von diesem in ein zentraler gelegenes Geschäftshaus umgezogen war. Der Laden war nicht nur sein Traum, sondern auch seine Chance, sein Leben zum Besseren zu wenden, eine Zukunft für seine Frau und sich aufzubauen. Zufrieden lächelnd ging er zu Alex hinüber, der sich an die Verkaufstheke gelehnt hatte, und legte ihm seinen Arm um die Schulter. „Geh du mal nach Hause, den Rest schaff’ ich selbst.“
„Wirklich?“ Der Verkäufer in spe deutete zur Tür, hinter der Lounis eine kleine Computerwerkstatt eingerichtet hatte und fragte: „Was ist mit den Kisten da drin?“
„Die bringe ich vermutlich morgen früh weg.“ Er lächelte gleichmütig, klopfte Alex auf den Rücken und stieß sich vom Tresen ab. „Ich will dich morgen früh für die Eröffnung munter haben.“
Der Jüngere zögerte, fuhr sich durchs Haar und gab zu bedenken: „Was ist mit ihr?“ Beide sahen hinaus, wo eine junge Frau auf der Parkbank gegenüber Lounis Reparaturshops saß, scheinbar den Schriftzugaufkleber auf dem Schaufenster studierte. „Gruselig.“
„Ja“, seufzte der frisch gebackene Ladenbesitzer, ehe er sich schulterzuckend abwandte. „Egal. Irgendwann gibt die schon auf. Geh du ruhig los, es ist saukalt und du bist mit dem Rad hier. Wenn du dich beeilst, schaffst du es trocken heim.“
„Sicher?“, hakte Alex nach, ihm war unwohl bei dem Gedanken, seinen gutmütigen Chef mit der Stalkerin alleine zu lassen. „Es macht mir nichts aus, dir beim Aufbau der …“
„Alex“, unterbrach Lounis den anderen schmunzelnd. „Ich bin mir sicher und bestehe darauf, dass mein bester Angestellter rechtzeitig in den Feierabend kommt, deine Xbox vermisst dich sonst.“
„Na, wenn du meinst.“ Erneut linste er zu der Frau, die sich seit bald zwei Stunden keinen Zentimeter bewegt hatte, riss sich schließlich von dem unheimlichen Anblick los und schnappte sich seinen Schulrucksack, den er bei der Kasse deponiert hatte. „Also dann, Boss, bis morgen.“
Lounis erwiderte die Floskel, wirbelte herum und fügte an: „Fast vergessen. Stellst du bitte den Desinfektionsmittelständer beim Rausgehen neben den Eingang?“ Der Beginn seiner Selbstständigkeit hätte kaum in eine ungünstigere Zeit fallen können, aber die Situation war nun einfach so, wie sie eben war. Natürlich wünschte sich jeder eine stabile Wirtschaftslage, umso wichtiger war es, sämtliche Hygienevorschriften einzuhalten, idealerweise zu übertreffen, damit sein Shop für Kunden geöffnet blieb. „Danke dir.“
„Kein Ding. Tschüss.“
Knappe dreißig Minuten, nachdem Alex gegangen war, glitzerte Eisregen im dürftigen Licht der Straßenlampen. Lounis rückte auf dem Regal einige Packungen mit Festplatten gerade, gähnte und machte sich daran, die ausgeräumten Umzugsboxen zusammenzufalten, als es klopfte und die Türglocke läutete.
„Lou, Schätzchen?“, rief eine helle Stimme. „Lou?“
Der Angesprochene zuckte zusammen, brachte sofort einen Karton zwischen sich und die andere Person und blaffte: „Was willst du, Mel?“
„Du bist albern.“ Sie kicherte, rieb ihre Hände gegeneinander, öffnete die Mantelknöpfe und schlenderte durch den Laden auf ihn zu. „Meinen Liebsten besuchen, das will ich.“
Er brummte genervt, kratzte sich am Bart und huschte hinter den Tresen, um sich möglichst von seiner Stalkerin abzuschirmen. „Ich habe dir schon gesagt, wie daneben ich dein Verhalten finde, Mel. Bitte geh jetzt aus meinem Geschäft.“
„Du und deine Witze“, gluckste sie amüsiert, bevor sie elegant auf den Ladentisch sprang, sich neben die Kassenauslage setzte und sich zu ihm runterbeugte. „Schätzchen, wollen wir deine Bude mit einer Runde wildem Sex auf der Theke einweihen?“
„Mel!“, brüllte er und wich einige Schritte zurück, bis er gegen die Wand mit den Handyhüllen stieß. Lounis war keiner, der sich über jede Nichtigkeit aufregte, deshalb hatte er Melanies Avancen bisher als harmlose Vernarrtheit abgetan, sie entweder freundlich abgewiesen oder ignoriert. Ja, sogar ein wenig geschmeichelt war er gewesen, war ihr Interesse doch genau die Inversion seiner ständig unerwiderten Verliebtheit während der Schulzeit. Allmählich verging ihm allerdings der Spaß an der Sache, mit jeder Begegnung wurde sie offensiver, teilweise fast aggressiv. „Mel, bitte geh jetzt“, probierte er abermals, sie zu Verstand zu bringen und funkelte die Blonde unwirsch an. „Sofort!“
„Ach Lou, Schätzchen, du bist so gemein zu mir“, flötete sie, kletterte hinter den Ladentisch und stürzte sich regelrecht auf ihn. Er stöhnte entsetzt auf, schubste sie dann reflexartig von sich, sodass sie mit dem Hintern gegen die Kasse prallte, die klingelnd aufging. Ihr Ausdruck wandelte sich von neckisch in verdrossen, mit zusammengekniffenen Augen keifte sie ihn an: „Lou, du sollst nicht so gemein zu mir sein, hast du gehört?“
„Mel, bitte“, flehte er hinter ein Regal mit Lüftern flüchtend. „Du sollst gehen.“
„Weißt du was?“ Sie hämmerte mit der Faust dreimal auf den Tresen, hielt inne und grinste verschwörerisch an, ehe sie schnippisch fortfuhr: „Ich habe die Schnauze voll von deinen Spielchen, Lou, du musst mich echt langsam besser behandeln, sonst werde ich böse.“
„Mel …“ Er schnaufte einige Male tief durch, überlegte fieberhaft, wie er die junge Frau ohne großes Theater aus dem Geschäftshaus, am besten gleich aus seinem Leben bekäme, da kreischte Melanie plötzlich und schlug ihren Kopf mit voller Wucht gegen die Kante der Verkaufstheke. „Was zum … Scheiße!“, spie er aus, für einige Sekunden gefror sein Körper in einer Schockstarre. Er musste alle Kraft zusammennehmen, sich an die in der PTBS-Therapie mühsam erarbeiteten Strategien erinnern, um sich daraus zu lösen. „Verdammte Scheiße, Mel!“ Endlich gelang es ihm zu reagieren, er rannte zu der stark blutenden Melanie, packte sie an den Schultern und setzte sie vorsichtig auf den Boden. „Mel! Mel, was ist los, was ist passiert. Meine Güte, geht’s? Kannst du mich hören, Mel? Mel!“, redete er vor sich hin, unschlüssig, was er tun sollte, griff er nach einem Lappen, drückte diesen auf die klaffende Fleischwunde an ihrer Stirn und versuchte sich an die Notrufnummer zu erinnern, während sie sich an ihn klammerte und losheulte.
„Wieso hast du das getan?“, schrie Melanie zwischen lautem Schluchzen, „Wieso hast du mir das angetan?!“ und er betete, dass Alex beim Rausgehen daran gedacht hatte, die Überwachungskameras einzuschalten.