Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Arschlöcher!“ Ein paar Vögel zwitscherten in den Bäumen, mehr lustlos, denn hochmotiviert für die Balz. Ab und an summte ein gelangweiltes Insekt vorbei, eine Spinne hockte träge auf einer Flechte, beachtete ihn kaum. Diese Tage schien die Welt ihren Antrieb verloren zu haben, selbst die Sonne zeigte sich nur selten. Jacob Jabin Jachimowicz trotzte der allgemeinen Faulheit, stapfte zackig durchs Unterholz. Gerade eben, im Alter von dreiundvierzig, hatte er tatsächlich zum ersten Mal ein Schimpfwort laut ausgesprochen. Natürlich war er längst bekannt mit diversen blumigen Ausdrücken, bislang sah er allerdings davon ab, seiner Umwelt direkt mitzuteilen, was sie ihn wie und wo konnte. Nein, seine Mutter hatte damals zugesehen, einen anständigen Mann aus ihrem einzigen Buben zu machen. Je weiter er im Gehölz untertauchte, sich vom ewigen Tastaturklackern seines Büros entfernte, desto besser gelang es ihm, seine Gedanken auf die Reihe zu kriegen. Sehr zu seinem Leidwesen entschärfte das die Lage nicht, stattdessen wurde er bloß noch fuchsiger. Schnaubend blickte er zum Himmel und wie um ihn darin zu betätigen, dass die Welt ein mieser Ort voller Arschlöcher war, flog eine Amsel über ihn hinweg und ließ etwas Ekliges in seinen Mund fallen. Hustend und fluchend beugte er sich vor. „Ficken sollen sie sich“, nuschelte er, leicht beschämt über das, was er gerade gesagt hatte. „Ficken sollen sie sich, diese … diese verschissenen Wichser!“ Instinktiv wandte Jacob Jabin Jachimowicz sich um, wollte sichergehen, sein ungewöhnlicher Ausraster wurde nicht belauscht. „Verkackte, inkompetente Pissnelken, verdammte.“ Sepiafarbenes Licht waberte durch die Baumkronen, tauchte den Forst in eine surreale Stimmung. „Scheiße, scheiße, scheiße“, wetterte er lauter, selbstbewusster und stampfte mit jedem Schritt fest auf. Das dumpfe Poltern auf dem Waldboden klang heute irgendwie anders. So fühlte es sich also an, wütend zu sein, sinnierte Jacob Jabin Jachimowicz. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, wie sehr Rage die Wahrnehmung veränderte. „Ausgediente Analdrüsensekretschleudern“, brüllte er schließlich befreit, kaum hatte er den Fluss hinter seinem üblichen Rastplatz überquert. Wahrscheinlich war er der einzige, der diesen Ort kannte. Das Waldstück weitab vom Spazierweg gehörte der Gemeinde und wurde bestenfalls ein- zweimal im Jahr vom Förster besucht, sogar die Kinder, die am Stadtrand Räuber und Gendarm spielten, verirrten sich nie hierhin. „Ein Zip-Diskette, eine verfluchte Zip-Diskette“, entgeisterte er sich abermals über den Vorschlag seines Vorgesetzten, die neuen Datensätze zu sichern. „Willkommen in den Neunzigern, du unfähiger Dreckskerl.“ Jacob Jabin Jachimowicz zwang sich dazu, tief einzuatmen, bis auf zehn zu zählen und dann die Luft zwischen seinen zu einem O geformten Lippen zu blasen. Der Wald war weichgezeichnet von einem trockenen Nebel und unheimlich leise. Er wiederholte das Ritual, betrachtete währenddessen die Rinde einer schief gewachsenen Tanne. Wenn er sich konzentrierte, entdeckte er auf der Korkoberfläche kleine Straßen, darin Milben und Läuse, die in einer Reihe nach unten marschierten. „Alles gut, Jacob Jabin Jachimowicz, alles gut“, brummte er vor sich hin. „Alles gut.“ Endlich lockerte er sich ein bisschen, die Wut ebbte ab, machte einer surrenden Empfindung Platz, die sich von seinem Haaransatz bis in die Oberschenkel ausbreitete. „Alles gut, Jacob Jabin Jachimowicz, alles ist gut.“
„Was ist eine ZIP-Diskette?“, fragte eine piepsende Stimme. Der Angesprochene wirbelte aufgeschreckt herum, bereitete sich darauf vor, sein ungehaltenes Fluchen erklären zu müssen. Doch da war niemand.
„Hier oben“, pfiff es in seiner unmittelbaren Nähe. „Schau.“ Zwischen einigen Zweigen hockte ein Eichhörnchen auf und blinzelte ihn neugierig an. Jacob Jabin Jachimowicz wischte sich ungläubig über die Augen, schüttelte den Kopf und lachte: „Quatsch.“
„Was ist Quatsch?“, erkundigte sich das Eichhörnchen mit zuckendem Näschen. „Die ZIP-Diskette?“
„Ja, die ist absoluter Quatsch. Wie kommt der Hornochse auch auf die Idee, ein dermaßen veraltetes Speichermedi… Halt! Bist du ein Eichhörnchen?“
„Streifenhörnchen“, korrigierte das winzige Tier und hopste auf ihn hinzu. „Was ist ein Hornochse?“
„Mein Chef ist ein … Nein!“ Jacob Jabin Jachimowicz rieb sich die Stirn, starrte fassungslos auf sein Gegenüber. „Was passiert mit mir?“, murmelte er das Hörnchen begutachtend, das ihn ratlos ansah und die Schnute verzog. „Halluziniere ich? Wieso?“ Er kam sich vor, als hätte ihm jemand mit einer Bratpfanne auf den Schädel geschlagen, ihm war schwummerig, ein Windhauch könnte ihn umwerfen. „Was ist mit mir?“
„Keine Sorge, das ist normal bei Menschen. Setz dich hin.“ Ohne nachzudenken, gehorchte Jacob Jabin Jachimowicz dem Streifenhörnchen und ließ sich auf den Waldboden fallen. Das feuchte Moos schmiegte sich zwischen seine Finger, klammerte sich regelrecht daran. „Wenn du magst, kannst du hier warten.“
„Warten auf was?“
„Auf unser Geheimtreffen. Die Amsel trommelt gerade alle zusammen.“ Fröhlich quiekend kicherte das Streifenhörnchen und wedelte mit seinem imposanten Schwänzchen.
„Okay.“ Der rätselhafte Dunst reichte ihm nun bis zum Kinn. „Okay, du hast recht, Sitzen ist besser.“
„Prima“, meinte es und kletterte einen Ast weiter nach oben. „Ruh dich aus, erhol dich von der ZIP-Diskette.“
„Davon kann ich mich nicht erholen“, seufzte Jacob Jabin Jachimowicz müde grinsend, ehe er sich auf den Rücken legte und beobachtete, wie der Dampf ihn einhüllte. „Wer kommt denn zum Geheimtreffen?“ Sein Verstand hatte aufgegeben, sich gegen die Absurdität zu wehren. All seine Kraft wurde aus ihm gesaugt, sickerte in den Boden.
„Die Waldhüter, sie kommen wie jedes Jahr zu dieser Zeit. Die Zeremonie muss bis zur Morgenröte stattfinden, damit wir Kreaturen geschützt sind.“
„Geschützt?“, keuchte er nunmehr saftlos, da erschien eine Eule, die über ihn kreiste und freundlich gurrte: „Das Opfer, wie schön, es ist da.“ Völlig entspannt schlummerte Jacob Jabin Jachimowicz ein.