Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Ana streckte sich und genoss die warme und erschöpfte Glückseligkeit, die sie erfüllte. Wie immer wenn sie lange durchgehalten hatte, fühlte sie sich nicht nur zufrieden sondern auch stolz, während sie auf der Yogamatte lag und tief atmete. Das Yogastudio war längst leer und verlassen und durch die großen Fenster konnte sie die Hügelkette am anderen Ende der Stadt sehen, an der die berühmten weißen Lettern prangten. Abwesend, kaum bewusst, warf sie einen Blick auf die runde Uhr, die kurz vor Mitternacht zeigte und stellte sich bereits vor, wie sie in dem beinahe lächerlich klobigen Geländewagen nach Hause fahren, duschen und sich dann in ihr weiches Bett legen würde. Manchmal fragte sie sich, warum sie überhaupt eine Mitgliedschaft in einem Yogastudio hatte, wenn sie sich entweder andauernd über die Missgunst der (zugegebenermaßen ambitionierten) Trophy-Wives aufregte, die den Großteil der Kundschaft ausmachten oder erst so spät kam, dass sie sowieso alleine war. Doch sie würde es nicht anders machen wollen und das wusste sie eigentlich auch. Der Wettbewerb mit diesen aus ihrer Sicht unmöglichen Frauen spornte sie dazu an, ihr Bestes zu geben und gab ihr Ehrgeiz, den sie sonst nicht in dem Ausmaß an den Tag legte. Und auch wenn sie sich das sonst nur selten eingestand, sie mochte auch die scheinbare Oberflächlichkeit und sinnbefreite Zurschaustellung, die in dieser Stadt den Ton anzugeben schienen; ja, Ana gehörte zu den Leuten, die das Leben hier in vollen Zügen genossen.
Langsam stand sie auf und machte ein paar letzte Dehnübungen, noch immer etwas stolz darauf, was sie heute geleistet hatte. Sie kramte den blauen, schon etwas verbrauchten Leuchtstift und ihre Agenda aus der Tasche, klappte sie beim richtigen Datum auf und strich sich das Zeitfenster an, das sie im Yogastudio verbracht hatte. Diese Woche war sehr blau geworden, stellte Ana erfreut fest, und das bedeutete nicht nur, dass sie immer besser werden würde, sondern auch, dass ihre Disziplin nicht nachgelassen hatte. Sie warf einen letzten Blick durch die Fensterwand und beobachtete ein Segelflugzeug dabei, wie es über die hell erleuchtete Stadt glitt, geräuschlos und anmutig. Während sie hinter den Raumteiler trat, um sich umzuziehen, sinnierte sie, wer um diese Uhrzeit noch mit einem Segelflugzeug unterwegs war, bevor ihre Gedanken wieder zu ihrem Bett wanderten.
Gerade als Ana sich fertig angezogen hatte, wurde sie von einem penetranten Klingelton aus ihrer Ruhe gerissen. Verwirrt sah sie auf, denn das popmusikalische Katzengejammer, das sie hören konnte, stammte bestimmt nicht von ihrem Handy, klang aber so, als ob es ziemlich nahe war. Neugierig trat sie in den Raum und sah sich suchend um, doch sie konnte kein Telefon erkennen. Gerade als sie sich auf die Suche nach dem verlorenen Gerät machen wollte, war die weibliche Stimme zu hören, die vor der Tür zu sein schien. Mehr einem Instinkt folgend als weil sie wirklich einen Grund gehabt hätte, huschte sie wieder hinter den Raumteiler und duckte sich, sodass man sie nicht sehen konnte. Tatsächlich öffnete sich im nächsten Moment die Tür und Betty, eine der Stammkundinnen, trat mit dem Handy am Ohr ein. Natürlich konnte Ana sie nicht sehen, doch diese Person hätte sie unter hunderten herausgehört, denn Betty klang so, als würde sie ständig versuchen, sich bei jemandem anzubiedern. Ana verdrehte die Augen und hoffte, dass die andere Frau möglichst bald wieder gehen mochte, denn sie hatte wirklich keine Lust sich mit ihr zu unterhalten. Betty gehörte genau in die Kategorie von Trophäen-Ehefrauen, die Ana sowieso auf den Wecker gingen und wegen der sie nichtsdestotrotz in ebendieses Yogastudio ging, um sich von ihnen zu Bestleistungen anspornen zu lassen; das hiess aber noch lange nicht, dass sie sich gern mit ihrer Quasi-Kontrahentin unterhielt. Jetzt erst lauschte Ana dem Gespräch, von dem sie nur die eine Seite mitbekam und erwartete schon, irgendwas von Chihuahua-Pflege oder Terminen bei Kosmetikerinnen zu hören, doch stattdessen sagte Betty gerade mit Nachdruck: „… nein, ich werde das nicht diskutieren!“ Erstaunt horchte Ana auf, sie hätte es der anderen nicht gegeben, dass sie trotz all der gespielten weiblichen Verhaltensmuster so bestimmt sprechen konnte. Jetzt war ihr Interesse geweckt, nicht so sehr weil sie glaubte, dass Betty wirklich ein interessanter Mensch sein könnte, sondern weil sie wissen wollte, um was es bei dem Streit ging. „Ich habe dann einfach keine Zeit, um mit meinen Freundinnen auszugehen“, fuhr die Telefonierende genervt fort und schwieg dann kurz, während sie jemanden am anderen Ende zuzuhören schien. „Was, warum jede Woche?“, fragte sie dann ungeduldig nach und fügte hinzu: „Das weist du genau, dann kommen die neuen Folgen.“
„Na klar, sie schaut sich sicher ‚American Idol‘ an“, murmelte Ana sarkastisch, aber so leise, dass nur sie es hören konnte. Doch zu ihrer völligen Überraschung entgegnete Betty, nun wieder versöhnlicher: „Aber du weißt ja, ich mag halt Zombies.“ Damit hätte Ana nicht gerechnet, denn die andere Frau war für sie immer die lebende Inkarnation eines Stereotyps gewesen und sie hätte sie eher mit Modemagazinen als mit Zombie-Fernsehserien in Verbindung gebracht. Welche Überraschungen mochte Betty wohl jetzt noch auf Lager haben und würde gar noch etwas kommen? Doch auch wenn mittlerweile ihr Interesse geweckt war, wollte sie noch immer in erster Linie verschwinden und nach Hause gehen. Weil sie nicht glaubte, dass ihr jetzt noch eine Wahl blieb, belauschte sie gezwungenermaßen weiter das Telefonat und hoffte darauf, dass es bald zu Ende gehen würde. „Nein, ich bin noch im Yogastudio“, erklärte Betty eben und fuhr dann fort: „Am Abend ist es viel friedlicher und ich wollte mal was neues ausprobieren, außerdem ist dann sicher diese gemeine Geschäftsfrau nicht mehr da.“
Verwirrt dachte sich Ana, was Betty wohl damit meinen mochte, doch im nächsten Augenblick konnte sie auch schon die Erklärung hören: „Du weißt schon, diese Ana. Keine Ahnung was die gegen mich hat, aber die guckt mich jedes Mal ganz böse an, wenn ich in ihre Nähe komme, dabei will ich doch nur in Ruhe trainieren.“ Betty unterbrach sich für einen Moment und fuhr schließlich fort: „Wie auch immer, ich muss jetzt Schluss machen.“
Während Betty sich verabschiedete, saß Ana hinter dem Raumteiler, peinlich berührt, dass sie das Gespräch belauscht hatte und zweifelte daran, dass sie wirklich so gemein zu der anderen gewesen war, doch sie konnte die Unsicherheit nicht mehr ganz loswerden. Sie wusste nicht, ob sie sich jetzt mehr aufregen oder schämen sollte und war sich nicht mehr sicher, welche von ihnen nun die Hinterhältige war. Normalerweise täusche sie sich bei einem ersten Eindruck von jemandem nicht so komplett und sie war sich nicht sicher, ob sie ihre Fehleinschätzung jetzt gut oder schlecht finden sollte. Wieder begann sie fieberhaft zu überlegen, wie sie unentdeckt aus dem Studio verschwinden konnte, ohne dass Betty etwas davon bemerken würde, doch ihr wollte einfach kein Ausweg aus ihrer misslichen Lage einfallen. Und dann, als sie hinter sich den erschrockenen Aufschrei hören konnte, begriff sie, dass sie sich nicht mehr würde davonschleichen können, sondern sich mit Betty unterhalten musste. Und obwohl ihr die Situation so unangenehm war, dass sie schon rot wurde, bevor sie sich umdrehte, so war ein Teil von ihr doch neugierig darauf, ob sie sich jetzt mit Betty besser oder gar nicht mehr verstehen würde.