Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Zaira Zyan trabte auf dem Basketballfeld ihre Runden und genoss die Stille sowie die klirrendkalte Luft. Wie üblich war ihr Tag lang und hart gewesen, nichts für Anfänger, doch sie war ja längst keiner mehr. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr arbeitete die zierliche Blonde daran, die Welt vor monströsen Unholden aus der Unterwelt zu retten. Heute war sie vierzig geworden.
Zaira betrachtete die Wolken, die ihre Nase verließen, um in die Nacht emporzusteigen. Inzwischen kauerte sie, den Kopf auf die Knie gestützt, unter dem Basketballkorb und zählte Kieselsteinchen auf dem Hartplatzboden. Sie könnte nach Hause gehen, wahrscheinlich sollte sie das sogar, denn die anderen warteten auf sie. Gerade deswegen blieb sie sitzen. In der Wohngemeinschaft der Kämpfer, Rächer und mittlerweile post-pubertären Helden lief es immer rund. Immer. Mal trampelten Dämonen unvorangemeldet durch den Garten, ein anderes Mal flogen Wiccas im Wohnzimmer herum, wiederbelebte Nazi-Zombies verstreuten ihre fauligen Glieder im Bad und sogar der Vampir im Kühlschrank verwunderte sie kaum. Es war wie ein nie enden wollender Polterabend gespickt mit Magie und Dingen, die in Büchern und im Fernsehen zwar spannend anmuteten, ihr langsam aber sicher nur noch auf die Nerven gingen. Natürlich, mit sechzehn war die Aussicht auf solche Abenteuer wahnsinnig verlockend gewesen. Mit sechzehn war schließlich jeder der Überzeugung, allen Unsicherheiten zum Trotz etwas ganz Besonderes und für Großes bestimmt zu sein und Zaira war natürlich auch so eine Narzisse gewesen. Man kann von einem Teenager lediglich ein geringes Maß an Zweifel und Vernunft erwarten, wenn jemand auftaucht und ihn zum Auserwählten erklärt. So war es auch ihr ergangen, als Harvey ihr dieses Schicksal eröffnet hatte.
Vorgestern war der erste Schnee des Jahres gefallen, danach gefror er sofort zu einer krustigen Eismasse, welche nun durch ihre Leggins sickerte. Um ihren Hintern vor weiterer Unterkühlung zu bewahren, erhob Zaira sich und beschloss, ihr Training zu verlängern. Das Eisknirschen unter ihren Laufschuhen beruhigte sie, gaukelte eine gewisse Normalität vor. Vielleicht würde sie sich zum nächsten Stadtmarathon anmelden, das hatte sie sich bereits öfters vorgenommen, bloß waren stets irgendwelche Auseinandersetzungen mit Kreaturen aus der Hölle dazwischengekommen. Wer brauchte schon Ausdauersport, wenn der Alltag regelmäßig akrobatische Kampfeinlagen beinhaltete?
Gedanklich zeichnete sie die Verbindungen von Canis Major nach. Bis vor kurzem hatte sie sich ab und zu gefragt, was ohne Harveys Auftauchen aus ihr geworden wäre. Eine Astronomin? Hätte sie Medizin studiert? Soziologie? Oder hätte sie wie ihr Vater eine handwerkliche Ausbildung gemacht und säße in einer Werkstatt inmitten von Ersatzteilen? Ein kleiner Laden am Pier gefiele ihr auch, so einer, der Kinkerlitzchen an Touristen verkaufte. Letzthin hatte sie es ernsthaft in Erwägung gezogen, eines der leerstehenden Lokale anzumieten. Ein gemächliches Leben, das wäre was, sinnierte die versierte Heldin schwärmerisch. Allerdings war ihr bewusst, dass allein die Idee lächerlich war. Sie konnte es geradezu sehen, wie sie im grobmaschigen Wollpullover hinter dem Tresen hockt, eine freundliche Unterhaltung mit einem kunstinteressierten Rentnerpaar führt, als das Türglöckchen schellt, eine Horde Werwölfe hereinplatzt und ihr schönes Porzellan zerschlägt. Der Kampf gegen das Böse war ihre Berufung und das hatte die Angewohnheit, ihr überallhin zu folgen, sie aufzuspüren wie ein fieser Bluthund.
Aus Zairas Handy schepperte eine neunziger Jahre 8-bit Melodie, sie linste aufs Display und ächzte, bevor sie den Anruf entgegennahm: „Was gibt’s?“
„Zaira, wo zum Teufel steckst du? Wir brauchen dich, hier ist … Bwaaaaargh!“ Damit war das Gespräch beendet. Wenig erstaunt über den seltsamen Austausch scrollte sie durch das Telefonbuch und wählte Harveys Nummer. Als es klingelte trottete sie gemütlich zum anderen Ende des Sportplatzes, wo sie ihre Tasche abgestellt hatte.
„Sie haben den Anschluss von Harvey Harris erreicht. Ich bin zurzeit nicht errei…“ Sie verschaffte ihrem Frust mit einem neuerlichen Seufzen Ausdruck und verstaute ihr Handy unter dem Bund ihrer Leggins. Sie fühlte sich zu alt für diesen Mist. Heute mehr denn je. Erst kürzlich hatte sie sich einen Tumor aus dem Lymphknoten unter dem Arm entfernen lassen müssen, bald werden andere Gebrechen folgen und wenn sie Glück hatte, wäre das das Ende ihres Daseins als Auserwählte.
„Na gut“, klönte Zaira vor sich hin. „Es muss ja wohl sein.“ Geschwind band sie die Haare zu einem hohen Pferdeschwanz und klopfte sich anschließend aufmunternd auf die Oberschenkel. „Retten wir die Welt. Schon wieder.“