In einer dunklen Nacht, nahe der Autobahn und dem Bahngleis hatte Nummer Neun ihr Ende gefunden – wie unweihnächtlich, dachte Detective Leigh sarkastisch. Unter seinem einigermaßen robusten Schuhwerk knirschte Kies, als er einen Fuß nach dem anderen auf den vom früheren Regen durchnässten Weg setzte. Er sah bereits die unzähligen blauen und roten Lichter der Streifenwagen zucken, während er das alte Industriegleis überquerte und unter die Highway-Brücke trat, wo Halogenschweinwerfer die Schwärze durchschnitten.
„Hey, auch schon wach?“, begrüßte ihn Officer Pike, eine gekrauste Uniformierte, mit der er des Öftern zu tun hatte. „Bereit, hinter das neunte Türchen zu schauen?“
„Hab nicht geschlafen“, brummte Leigh, sich an den Bartstoppeln kratzend und stieg über das gelbe Flatterband in die Lichtkegel. Insgeheim wunderte er sich, wie die junge Pike in bei der Jagd dieses Serienmörders derart gelassen blieb, immerhin war das ihr neunter Tatort in genauso vielen Tagen. Andererseits hatte er in seinen langen Dienstjahren bei Major Crimes einiges erlebt, das jeder Beschreibung spottete – er war abgestumpft. „Na dann, wollen wir. Was haben wir heute im Adventskalender?“
Leigh deutete auf den Boden, wo lediglich eine Blutlache zu sehen war. „Bittesehr.“
„Welcher Trottel hat die Leiche entfernt?“, erkundigte sich der übermüdete Detective entnervt. „So eine Schlamperei können wir uns wirklich nicht leisten!“
Pike begann zu grinsen. „Du wirst mir um den Hals fallen, denn es ist etwas anders: Das Opfer hat überlebt, liegt aber im Koma.“
Kurz freute sich Leigh in der Tat, zumal dies der erste große Fehler des von den Medien reißerisch als Adventskalender-Killer bezeichneten Serienmörders war. Jedoch fiel ihm gleich ein Grund ein, der die Euphorie minderte: „Na ja, mit einen Schlauch im Hals wird es schlecht eine Aussage machen können. Was haben wir diesmal?“
„Bisher Jane Doe, weiblich, um die dreißig, Afroamerikanerin“, entgegnete Pike. „Neun Stichwunden im Abdomen. Ich glaube, nach dem asiatischstämmigen Rentner gestern, der mit einem achtfach gewickelten Strick stranguliert wurde, hat der Killer eine Multi-Kulti-Auszeichnung verdient.“
„Er wird nachlässig“, sinnierte Leigh, obwohl seine Zuversicht, diesen Verbrecher zu fassen, keineswegs besonders hoch war. Die Aussichten standen alles andere als gut und das bereits seit der Unbekannte am ersten Dezember damit angefangen hatte, täglich einen Mord zu begehen. Nichts verband die Opfer, die Tatorte, es gab keine Übereinstimmungen, außer, dass jede Leiche eine dem Datum entsprechende Todesart gefunden hatte: Mit einer Eisenstange erschlagen, zwei Kopfschüsse, drei unterschiedliche Gifte, viermal von einem Wagen angefahren … Die Spuren tauchten schneller auf, als sie verfolgt werden konnten – zum Täter führte bislang keine. Die Profiler spekulierten, er sei ein Ex-Soldat, da manche Delikte Kenntnis von Waffen und Nahkampf vorausgesetzt hatten. Leigh selbst war wenig optimistisch und wollte sich gar überhaupt nicht ausmalen, welche Todesarten sich dieser Psychopath für die Tage vor Weihnachten in die Agenda geschrieben hatte.
Pike riss ihn aus seinen Grübeleien, indem sie ihm am Ärmel zupfte. „Hey, Boss? Der Forensiker will mit dir sprechen!“
„Hm?“, machte Leigh und blickte zu Sanchez, einem der leitenden Forensiker des Falles, auf. Derzeit knabberte er an etwas Unidentifizierbarem herum, was den Detective zu fragen veranlasste: „Was zum Teufel ist das? Ich hoffe schwer, du hast das nicht schon am Tatort gegessen!“
Sanchez kaute hastig und schluckte anschließend hörbar. „Sorry. Selbstverständlich esse ich nie an einem Tatort, was denkst du denn? Außerdem ist es eine Erfindung von mir, ein Salatgurkenscheibenmüsliriegel enthält nämlich all die Energie, die man für einen Außeneinsatz braucht. Möchtest du auch einen?“
„Um Himmelswillen, nein!“, stieß Leigh schockiert aus. „Ich habe nicht mit dem Trinken aufgehört, nur um mich dann mit solchem Ökozeugs zu vergiften, das du zweifellos in denselben Messbechern herstellst, die auch für menschliche Überreste verwendet werden!“ Auf das enttäuschte Gesicht Sanchez‘ aufmerksam geworden, fuhr er fort: „Was wolltest du mir sagen?“
„Ich habe etwas entdeckt“, kam Sanchez wesentlich begeisterter auf das Thema zurück. Leigh war froh, dass ihn sein Mitarbeiter seine kulinarischen Monstrositäten vergaß. „Was denn?“
Gutgelaunt hielt der andere einen transparenten Plastikbeutel hoch, in dem ein Werbe-Adventskalender der städtischen Verkehrsbetreibe steckte, die Türchen von eins bis neun waren geöffnet. „Den haben wir am Tatort gefunden.“
„Na und? Die wurden zu zehntausenden gedruckt, die Spur können wir ziemlich bald verwerfen.“
„Sei nicht zu vorschnell“, wandte der Forensiker ein und schob sich den Rest seines dubiosen Müsliriegels in den Mund, als wäre er ein Müllschlucker. Schmatzend zeigte er auf das grafische Design des Kalenders: „Schau dir mal die Karte an!“
Leigh starrte verständnislos auf den als Sujet gewählten Netzplan der Untergrundbahn, dann, urplötzlich, begriff er: „Die Orte, wo er seine Verbrechen begeht, korrespondieren zu den Haltestellen, auf denen die Türchen liegen. Die U-Bahn ist bloß einige hundert Meter entfernt. Das heißt, wir wissen, wo er morgen zuschlagen wird!“ Mit dem Finger suchte er nach Türchen Nummer zehn und fand es: „Canal Street. Chinatown. Wir werden da sein.“
Officer Pike hatte ihre Uniform gegen bequeme Zivilkleidung getauscht und sich neben dem Detective hinter eine Kiste geduckt. Die schmale, finstere Gasse in Chinatown wäre ideal, um einen Mord zu begehen, hatte Leigh überlegt und sich deswegen auf die Lauer gelegt. Natürlich hatte er sich aber nicht ausschließlich auf sein Bauchgefühl verlassen, sondern die ganze Nachbarschaft mit Polizisten in Zivil besetzen lassen und zudem Scharfschützen des ESU-Sondereinsatzkommandos auf den benachbarten Dächern stationiert.
Die Dunkelheit war schon vor mehreren Stunden hereingebrochen und langsam wurde Leigh unsicher, ob sie mit ihrer Vermutung richtig lagen und der Killer tatsächlich hier und heute jemandem das Lebenslicht auszublasen beabsichtigte. Gerade, als er dem Officer seine Bedenken mitteilen wollte, zischte sie: „Da.“
Der Detective drehte sich unvermittelt dem Eingang der Gasse zu und erkannte aus seiner Deckung heraus, wie ein Mann im Weihnachtsmannkostüm zu ihnen einbog. Er nestelte an seiner Manteltasche, was die Polizisten dazu bewog, ihre Waffen zu ziehen und zu verharren. Der Killer brachte einen Revolver zum Vorschein, mit dem er auf die beiden anlegte und Pike rollte sich behände beiseite. Ein lauter Knall durchbrach die Stille, sofort gefolgt vom Kugelhagel der herangeeilten Cops und den scharfen, wiederhallenden Schüssen der Sniper. „Verfluchte Kacke!“, rief Leigh aus, bevor er sich ebenfalls auf den Boden warf.
Das Donnern versiegte rasch, kurz darauf plärrten unzählige Stimmen über den Funkkanal, die sich offenbar in dem entstandenen Chaos zu koordinieren versuchten. Der Detective trat vorsichtig zu dem leblosen Körper auf den zerbröselnden Asphalt und langte dem Mann an die Halsschlagader – kein Puls.
Leigh schlug den roten Mantel der Leiche zurück und sah einen weiteren Adventskalender. Türchen Nummer Zehn war geöffnet, sodass eine mit Handschrift hingekritzelte Notiz sichtbar wurde: „Suizid durch Cop.“
Im selben Moment vernahm er, wie Pike unterdrückt lachte und wandte sich um: „Was ist?“
„Stell dir das vor, der Kerl ist von zehn Kugeln durchsiebt worden. Genau zehn!“
Leigh hatte derweil den Adventskalender umgedreht, wo in derselben krakeligen Klaue stand: „Ich habe bei der Nummer Neun versagt und muss den Preis bezahlen. Mein einziger Trost ist, dass ihr niemals wissen werdet, was hinter Türchen Nummer Vierundzwanzig verborgen war. Dieser Gedanke soll euch auf ewig quälen.“