Du kennst sicher die Momente, in denen dir jäh klar wird, weshalb du ständig im Kreist läufst und den Ausgang aus der Manege nicht findest. Nur sind diese Momente nicht wirklich unerwartete Erkenntnisse, das ist bloß etwas, dass du dir selbst vormachst, damit du dich ein bisschen weniger für deine vergangenen Versäumnisse grämen musst. In Wahrheit weißt du schon lange, was schief läuft, vermutlich sogar, was du ändern müsstest. Es ist ein wenig so, als würdest du in einem brennenden Haus gemütlich auf der Couch herumlungern. Du hast dich extra dort hingesetzt, weil der Kamin so schon flackert, dich wärmt und du geglaubt hast, du könntest dort eine kleine Ewigkeit verweilen.
Natürlich hast du die ersten Glutstücke nicht bemerkt, sie waren noch so klein, als sie auf den Teppich fielen. Irgendwann aber hast du sie am Rande deiner Wahrnehmung registriert, sie dann einfach ignoriert. Ab und an jedoch blitzen sie in deinen Augenwinkeln auf, deine Muskeln verkrampfen sich kurz und du fühlst dich schuldig, so lange, bis der Gedanke wieder verschwindet. Vielleicht könntest du ewig so weitermachen, weiter die Wärme genießen. Ohne zu bemerken, wie du langsam verbrennst.
Genauso erging es Oskar, der in dieser Sekunde irgendwo auf der Welt rauchend auf dem untersten Treppenabsatz steht und sich selbst schwere Vorwürfe macht. Er hatte seine Gesundheit vernachlässigt, eine Beziehung nicht rechtzeitig beendet, sein Geld nicht sinnvoll angelegt oder sonst irgendetwas getan, dass ihn in die nur vermeintlich plötzliche Schockstarre der Reue trieb. Eigentlich spielt das ja keine Rolle, wichtig ist bloß, dass er jetzt dasteht und im Strudel der Konjunktive ertrinkt. „Hätte ich doch nur“, denkt er sich und kaut auf seiner Unterlippe, „wenn ich doch bloß nur hätte.“
Du hast bestimmt schon tausende solcher Menschen wie Oskar gesehen, wahrscheinlich gerade erst heute wieder, auf dem Weg zur Arbeit, beim Kiosk oder im Hausflur. Himmel, ziemlich sicher bist auch du einer von ihnen. All die Dinge, die du als kleines Mädchen nicht gelernt hast, all die Chancen, die du als heranwachsender Mann verpasst hast, einfach jedes einzelne Mal, wenn du dich selbst enttäuscht hast. Meistens fallen sie dir nicht auf, sitzen ruhig lauernd an der Kante deiner Aufmerksamkeit, darauf wartend, dass sie von einer Nebensächlichkeit heruntergestoßen werden, um dich zu erschlagen.
Irgendwie ist es passend, dass Oskar ausgerechnet auf einem Filmset herumstreift und seinen Touristenplan aufgeregt in der Hand zerknüllt. Die Einsicht kam nämlich gerade auf ihn gedonnert, als wäre ein Piano aus dem dritten Stock auf ihn gefallen, ganz wie in einem Slapstick-Film. Abgelaufen ist es wie üblich, Oskar verhielt sich genauso, wie man es von jemandem in seiner Situation erwarten würde. Er tut es immer noch. Erst hatte er den Gedanken ja noch unterdrücken können, doch dann zuckten seine Muskeln und ein harter Klumpen bildete sich in seinem Magen, bis er sich nicht länger einreden konnte, verwirrt zu sein, nicht zu wissen, was los ist. Nun steht er da, inmitten von metaphorischen Klaviertasten und fragt sich, wie lange es dieses Mal anhalten würde.
So ist es doch, nicht wahr? Der Moment, wenn die einst so harmlos lodernden Flammen über dich herfallen und du wie ein Reh im Scheinwerferlicht erstarrst, schockiert darüber, dass sich das Blatt gewendet hat. Der einzige Ausweg, der dir dann noch bleibt, ist die Flucht nach vorne, die Konfrontation. Dann beginnt der Tanz, den du vermutlich schon fast auswendig kennst, obwohl du dich darum bemühst, deine Schritte unbeholfen wirken zu lassen. Jetzt, da du endlich verstanden hast, was schiefläuft, wirst du dich ändern, wirst alles daransetzen, aus dem ewigen Kreisrund abzuhauen und nur eine Staubwolke zurücklassen.
Oskar und Alinka sind zusammen hier, doch sie war nirgends zu sehen, kaufte vermutlich gerade dumme Mitbringsel für die Lieben zuhause. Er kratzt sich mit seinen abgeknabberten Fingernägeln über die Wangen, versucht sich irgendwie zu wecken oder sich davon zu überzeugen, dass nicht er, sondern bloß sein Doppelgänger hier steht. Hier, in diesem Chaos, in diesem unheilvollen Flammenmeer aus Bedauern und Selbsterkenntnis. Die Idee mit ihr darüber zu sprechen bleibt nur flüchtig in seinen Gedanken hängen, wie sollte er ihr das auch erklären, wie könnte er überhaupt auf ihr Verständnis hoffen. Eines ist jedoch klar, er muss jetzt handeln.
Wenn du endlich verstehst, dass der Rauch nicht aus einer Rauchmaschine kommt, wirst du vom Zwang zur Handlung verschluckt, doch in seinem Schlund wird es plötzlich finster. So düster, dass du erst vergeblich nach Anhaltspunkten suchst, die du eigentlich schon lange kennst, nach Lösungen, die so offensichtlich sind, dass du ungeahnte Kräfte mobilisieren musst, um sie weiterhin im Dunkeln zu verstecken. Du wirst zum Flat Coated Retriever Welpen, der seinen eigenen Schwanz jagt und obwohl du dich davor fürchtest, wie die Schlange, die sich selbst aufgefressen hat, zu enden, rennst du immer schneller im neuen selbstgezimmerten Hamsterrad.
Alinka schlendert mit zwei großen Bällen aus Zuckerwatte auf Oskar zu, schenkt ihm ein Lächeln und mit jedem Schritt, den sie näher kommt, werden die Flammen ein Stückchen weiter an den Saum seiner Aufmerksamkeit gedrängt. Hinter ihr fährt ein bunt bemalter Tour-Bus über die Straße, die ins Nirgendwo führt, deren einziger Zweck darin besteht, an diesem einen Flecken Erde für etwas Realität zu sorgen. Oskar blinzelt gegen die orange brennende Sonne und wartet mit plötzlicher Geduld darauf, dass Alinka nahe genug kommt, um ihm Schatten zu spenden.
Gefangen in einem lichterloh brennenden Haus bleiben dir nur zwei Optionen: Diejenige, die richtig ist und diejenige, die du möchtest. Die beiden decken sich nicht immer, zerren auf beiden Seiten an dir und lassen dich im Glauben, dass du ihnen nur gerecht werden kannst, wenn du zwischen ihnen tanzt. Du nagst an dir, willst dich vom logischen Weg aus dem selbstgewählten Unsinn reißen, doch die Ruhe in der Ignoranz ist zu verlockend, um sie einfach aufzugeben. Könntest du das Hamsterrad doch bloß vergessen, würde das Feuer doch einfach unsichtbar werden, dich weiter wärmen und dich ganz heimlich verspeisen.
„Hey, was ist denn los?“, fragt Alinka und legt besorgt ihren Kopf schief. Oskar lächelt, traurig, hoffnungsvoll, resigniert und erleichtert. Das Blenden rückt an die Ränder ihrer Silhouette. Das Versprechen auf die Möglichkeit zu vergessen spiegelt sich in ihren Sommersprossen und Oskar lächelt.
„Nichts, alles ist gut“, lügt er und weiß, dass seine Worte bald schon kein Märchen mehr sein werden. In der Retrospektive lässt sich fast alles zur Wahrheit verzaubern. Er schnippt seine Zigarette über das Geländer, das vor dem hohlen Haus steht und springt in einem Satz auf die Kulissenstraße. „Lass uns gehen.“
Das Rad hat aufgehört, sich zu drehen, so unverhofft wie es in Bewegung gekommen war und du fragst dich auf einmal, weshalb du nicht auf der Couch liegst. Eine vage Erinnerung an die Strapazen bleibt zurück, doch die Wärme ist zu schön, als dass du dich über ihr Verbrennungspotential Sorgen machen willst. Doch tief in dir frisst die Schlange weiter, so lange, bis die dritte Möglichkeit dich irgendwann findet. Sie ist simpel und doch so schwer, dass sie nur gemächlich an die Oberfläche treiben wird. Vielleicht, wenn du Glück hast, bist du bis dahin weder verbrannt noch erfroren, vielleicht, nur wenn du Glück hast, wird sie dich im Kreistanz fliegen lassen. Ich wünsche dir Handschuhe und Eiswasser, solange bis du erkennst, dass der Ausweg nicht immer durch die Tür führen muss.