Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Kurzgeschichte erscheint im Rahmen der dritten Clue Writing Challenge.
„Hey, Babbo“, rief der etwas untersetzte Rizzare sehr zu meinem Ärger in Richtung der Küche. Jeder wusste, dass man den großen Natale nicht zu stören hatte, wenn dieser seine Tomatensuppe köchelte. „Babbo, wir sind zurück.“ Lampo und Tuono saßen auf der Couch, sahen auf und bedeuteten dem Schreihals, still zu sein.
„Rizz, was tönst du hier so rum? Du kennst doch das Spiel, du spielst es schon dein ganzes Leben“, versuchte ich für Ruhe zu sorgen. Um Rizzares große Klappe kontrollieren zu können, bräuchte ich allerdings eine Tommy Gun.
„Cupido hat recht“, meinte Cometa, die sich einen Keks aus der Dose klaubte und mit vollem Mund hinzufügte: „Entschuldige dich gefälligst.“ Rizzare lachte erst heiser auf, ehe er zwinkernd herausposaunte: „Freiheit ist, sich nicht entschuldigen zu müssen.“
„Was soll der Radau?“ Das Familienoberhaupt der Natale erschien in rot-weißer Kochschürze auf einer Gewürznelke kauend im Durchgang zur Küche. Ich senkte sofort den Blick auf den abgetretenen Teppichboden, und wartete mit den anderen in wachsamer Stille auf einen Wutausbruch unseres Patrons.
„Verzeih, Babbo, wir wollten dich nicht stören“, stammelte Rizzare schließlich kleinlaut. Der Angesprochene zuckte zur Antwort lediglich mit den Schultern. Er war seit dem Vorfall mit Ballare etwas umgänglicher geworden, auch der Wein schmeckte ihm in letzter Zeit besser als früher. Als ihn das betretene Schweigen ungeduldig werden ließ, gestikulierte er mit dem Kochlöffel und verlangte zu erfahren, ob wir unseren Bruder gefunden hatten.
„Nein, Rudolphos Apartment war leer“, erklärte ich. In meinem Tonfall klang die Schüchternheit eines auf frischer Tat ertappten Lausbuben mit.
„Volpe?“, fragte Babbo Natale leise. Es musste schwer für ihn sein, nicht bloß seinen einst treuesten Gefolgsmann, sondern auch seine ehemalige Geliebte auf diese Weise zu verlieren. Rizzare und ich erwiderten nichts, schüttelten nur die Köpfe. „Ich verstehe.“
Cometa wagte es als einzige, auf den gewaltigen Mann zuzugehen, legte ihre Hand auf seinen von schneeweißen Haaren bedeckten Unterarm und flüsterte grimmig: „Ekelhaft. Ich verabscheue sie!“
„Hüte dich, deine Feinde zu hassen, denn es trübt dein Urteilsvermögen“, wiegelte der alte Natale ab, wir nickten mit nachdenklichen Minen. Babbo war trotz des Weines nicht bekannt dafür, ein nachsichtiger Zeitgenosse zu sein; wer seinen kühlen Verstand, sein Gespür fürs Geschäft mit Mitgefühl verwechselte, war töricht und lief Gefahr, ins offene Messer zu laufen. Nur ging es hier um Volpe, Babbos Volpe. „Ich verstehe. Na dann los, lasst uns essen. Rudolpho und Volpe werden früh genug für ihren Verrat bezahlen.“ Damit klopfte Babbo sich auf den Bauch und mir auf die Schulter, grinste und schlenderte in die Küche.
„Coraggioso, wo zum Teufel warst du saudämliches Spatzenhirn?“, jubelte Rizzare beim Anblick seines Blutsbruders. Wir Männer beobachteten das Schauspiel gelassen, bis Cometa Babbo Natale ans Schienbein stieß und ihn leise anfauchte.
„Ach, Cometa, was soll ich sagen? Ich habe eine sentimentale Schwäche für meine Kinder und habe sie zu sehr verwöhnt. Sie reden wenn sie zuhören sollten.“
Seine Kinder, so nannte er uns, seine Kinder. Manchmal fiel es mir schwer, die Familie im richtigen Licht zu sehen. Zu einfach hätte man uns für einen Haufen gestörter Sektenanhänger halten können. Aber selbst wenn wir gerne behaupteten, unser Zusammenhalt sei Zeichen der Brüderlichkeit, war sie vorwiegend Ausdruck von Macht- und Geldgier. Wir waren Verbrecher und das mit Enthusiasmus. Wir waren diejenigen, die man nicht nach ihren Geschäften fragte, wir machten Angebote, die man unmöglich ablehnen konnte; und das gefiel uns. Cometa behauptete, man dürfe niemandem, der nicht zur Familie gehöre, merken lassen, was man dachte; ich glaubte das war ihre Art, mir das Gegenteil zu sagen. Deswegen war außer Rizzare und Tuono niemand überrascht über Rudophos Verrat gewesen. Ich schwöre bei der Mutter Gottes, dass jeder von uns es getan hätte; leider fehlten uns dazu die Eier in der Hose.
Rizzare schwieg endlich, ließ seinen Bruder zu Tisch und Cometa zur Ruhe kommen.
„Wie lief’s?“, erkundigte sich unser krimineller Ziehvater, während Coraggioso dankend einen Teller mit Spagetti entgegennahm.
„Gut, gut, äh, ja doch, gut.“ Das Stottern konnte bei diesem Prachtexemplar eines hirnlosen Ochsen vieles bedeuten, was ihn verriet, war das Zupfen an den Fingernägeln. „Roy hat da grad ein paar Probleme mit dem Restaurant und …“ Wir hatten es kommen sehen und wichen bereits zurück, bevor Babbo Natales Faust auf das Besteck donnerte.
„Was soll der Mist, Coraggioso, willst du mich verscheißern?!“, brüllte unser auf zweierlei Art mächtiges Familienoberhaupt los. „Du bist dümmer als das hässliche, senile Schaf meiner Großmutter!“
„Tut, tut, tut mir echt leid, Babbo. Was hätte ich denn machen sollen, der Mann ist gerade erst Vater geworden.“ Jeder von uns kennte den Code, niemand rührte Frauen oder Kinder an, außer natürlich, es war absolut notwendig. Wir kümmerten uns allerdings auch nicht um sie, wenn sie verwitwet und verwaist am Hungertuch nagten.
„Was interessiert mich das? Das hier ist Kapitalismus. Weißt du was das heißt?“ Coraggioso verneinte, so wie jedes Mal, wenn der Alte diese Frage stellte; es gehörte sich einfach so. „Angeschissen werden, das heißt es. Morgen gehst du sofort da hin und erinnerst diesen Hurensohn, was ‚Schutz‘ bedeutet, capisce?“
„Ja, Babbo, entschuldige.“ Weshalb dieses Rindvieh überhaupt noch mit uns am Tisch saß, war mir ein Rätsel. „Kommt nicht wieder vor.“
Tuono und Lampo erledigten den Abwasch. Tuono, weil er es entspannend fand, Lampo, weil er Tuono entspannend fand. Wir waren alle Brüder, ich bloß nicht auf dieselbe Weise wie die beiden. Ihre Komplimente zu meinem Anzug heute Mittag freuten mich trotzdem. Eitelkeit war eindeutig meine Lieblingssünde, schließlich imponiere ich hauptberuflich. Rizzare war mit Coraggioso verschwunden, um eine neue Lieferung ‚Sprungfedern‘ aufzusammeln, wir brauchten dringend Nachschub. Letztes Jahr war die Spielzeugproduktion für zwei Tage zum Erliegen gekommen, weil uns das Crystal Meth für unsere Arbeiter-Elfen ausgegangen war; nahm man ihnen ihre ‚Sprungfeder‘, wollten sie plötzlich ihre eigenen Flügel ausbreiten.
„Es ist ätzend hier“, klagte Cometa, ließ sich neben mir auf die Couch fallen und seufzte: „Verschwinden wir nachher ins Polo?“
„Ach was, du liebst diesen Wohnblock“, entgegnete ich schmunzelnd. Es gab zwei Arten von Menschen, die hier lebten. Die einen, die hier geboren worden sind, und die anderen, die hierherkamen, um vor etwas zu flüchten. Cometa und ich sind hier geboren; Babbo Natale nicht, er hatte das alles auf eigene Faust aus dem Nichts aufgebaut.
„Das könnt ihr vergessen“, unterbrach uns eben der fettbäuchige Geschäftsmann, der Visionär hinter der ‚Spielzeugfabrik‘, welche zusammen mit ihrer Tochterfirma, der ‚Weihnachtsbäckerei‘ als unschuldige Front für Menschen- und Drogenhandel dienten. „Ich will meine hellen Köpfe nüchtern.“ Er lachte dreimal herzhaft und setzte sich zwischen uns.
„Wie ich höre, hat Rudolpho im Süden schon einiges übernommen. Sobald er flüssig ist, kann er noch mehr Leute von deiner Loyalität freizukaufen“, gab Cometa, die wohl erbarmungsloseste, dennoch höflichste der Familie umgehend zu bedenken. „Er ist kein Vollidiot, ohne Rückendeckung wird er den Wohnblock meiden wie Lampos anzügliche Blicke.“
„Knallt ihn ab.“ Wir erstarrten. Es war so schnell gesagt, dass wir unseren Bruder töten sollen, war ihm so leicht von der Zunge gerollt. Einige meinten, dass die Grösse eines Mannes an der Zahl seiner Feinde bemessen wird; Babbo Natale hatte keine Feinde, sie waren eher von der kurzlebigen Sorte.
„Babbo“, begann meine Schwester zaghaft, „wenn wir ihm die Lichter ausblasen, kannst du nicht mehr mit ihm sprechen und Volpe …“
„Soll die Hure doch auf der Straße verrecken! Was ist schon mit der Liebe? Sie ist überschätzt, biochemisch gesehen nichts anderes als riesige Mengen Schokolade zu vertilgen!“ Er befahl in dieser Familie. Falsch oder nicht falsch, Rudopho am Leben zu lassen, war nicht das, was er wollte. Nicht einmal Gott, dieser heilige Voyeur, höchstpersönlich konnte ihn umstimmen. „Aber Rudolpho … Ich weiß, dass er es war. Es bricht mir das Herz … Es bricht mir das Herz.“ Ich hatte mir überlegt, mit ihm zu gehen, den Verrat zu begehen, alleine deswegen, weil ich es satt hatte, Babbos Hund zu sein, sein stinkender Köter, der die Ratten fressen sollte. Rudolpho hatte mir eine gute Position angeboten, ich hätte eine kleine Armee von Elfen unter mir gehabt und beinahe konnte er mich überzeugen. „Sag Hallo zu deinen kleinen Freunden“, hatte er mich seinen Lakaien vorgestellt und die Idee war durchaus reizvoll, eines Tages einen eigenen Lampo, Tuono, Rizzare und Coraggioso zu haben; eine eigene Cometa. Getan habe ich es schlussendlich nicht, Ruhm hat eine Halbwertszeit von fünfzehn Minuten, Schande lebt etwas länger. Das heißt, sofern man sie überlebt.
„Weißt du noch, was ich dir am Tag deines Schulabschlusses gesagt habe, Cupido?“ Cometa sah mich aus schockgeweiteten Augen an, ihre Pupillen schossen geradezu zwischen mir und Babbo hin und her.
„Irgendwann, möglicherweise aber auch nie, wirst du mich bitten, dir eine kleine Gefälligkeit zu erweisen“, rezitierte ich den genauen Wortlaut. Ich werde ihn nie vergessen, dieser Satz war meine Aufnahme in die Familie gewesen, der erste Glockenschlag in meinem Leben als Natale.
„Guter Junge. Du weißt, was du zu tun hast: Knall ihn ab und reiß der Hure die Plastiktitten ab!“
Der Wein schmeckte ihm in letzter Zeit besser als früher, schießt es mir durch den Kopf, als ich den Wohnblock verlasse, das kitzelt den Rebellen in mir. Ich werde bloß darauf warten, dass er mehr trinkt als früher.