Diese Kurzgeschichte erschien im Rahmen der fünften Clue Writing Challenge.
„Ach, hast du gewusst, Tante Frieda ist umgezogen. Sie wohnt jetzt in …“ Rasch blende ich die Diskussion meiner beiden Neffen aus um mich wieder meinem Mischsalat zu widmen, nebst den Kartoffelchips das einzige vegetarische Nahrungsmittel an dieser Familien-Grillparty. Ich habe noch nie ganz verstanden, was es damit auf sich hat, dass meine ganze, große Verwandtschaft im Wissen darum, wie sehr sie einander auf den Keks gehen, mindestens zehnmal im Jahr zusammenkommen muss, im Sommer gar im Garten, wo sie laut genug sind, um das ganze Dorf wachzuhalten. Wir quälen uns durch seichte Konversation und hoffen, der Abend möge bald ein Ende nehmen. Die Dunkelheit bricht bereits herein, die farbigen Lampen über uns tauchen alles in einen friedvollen Schimmer, dessen entspannende Wirkung jedoch durch die Konversationen zunichte gemacht wird. Meine Anwesenheit hier beruht keineswegs auf Freiwilligkeit, aber im Laufe der Zeit (wie komisch diese Wendung klingt, immerhin bin ich mit achtundzwanzig noch relativ jung) hat meine Mutter die Taktik perfektioniert, meine Schuldgefühle gegen mich zu verwenden. Ein Satz mit absichtlich schlecht übertünchter Enttäuschung reicht aus, und schon finde ich mich mitten in einem Familienanlass wieder, in dem ich ebenso deplatziert bin wie ein Laubfrosch in der Wüste Gobi. Mom hätte zum Militär gehen und Expertin für psychologische Kriegsführung werden sollen, sie hätte zweifelsohne den Vietnamkrieg für die USA gewonnen.
„Komm zurück, Mädchen“, befehle ich mir selbst, erinnere mich daran, zu lächeln und nehme einen neuen Anlauf, irgendeiner der verschiedenen Konversationen zu folgen. „ … und in dem Moment wusstest du, wieso ein Kreuzschlitzschraubenzieher stet…“ Den Rest von Papas Heimwerkerstory geht im lauten Gelächter der Tanten-Fraktion vom Nebentisch unter. Egal, wie sehr ich mich bemühe, ich schaffe es nie, einzelne Gespräche zu isolieren, wenn sie weiter als einen halben Meter entfernt sind, verschwimmt alles zu einem Klangteppich aus Einheitsbrei. Ich wünsche mir inständig, in Ruhe an meinem Schreibtisch zu sitzen und ungestört ein paar Steuererklärungen für meine Kunden vorzubereiten. Vielleicht bin ich etwas introvertiert, die meisten Leute verstehen unter Spaß etwas anderes. Das für mich einzig Gute an dieser Familienfete ist die Überraschung, die ich für meine Eltern in petto habe, etwas so triviales, das höchstens Leute wie meine Familie in Verwirrung und Aufruhr versetzen kann. Es misslingt mir, das fiese Grinsen zu unterdrücken, als ich mich von neuem auf die Unterhaltungen meiner Verwandtschaft zu konzentrieren versuche. Die Gruppe der Tanten, die an zweiten Biergartentisch hinter mir sitzt, schnattert darüber, wie man auch mit fünfzig noch den perfekten Mann findet. Die meisten Ideen, die sie dabei einbringen, stammen zweifelsohne aus Frauenmagazinen, manchmal verweisen sie gar selbst darauf. „Weißt du, ich habe nie ganz verstanden, wieso alle so eine Sache daraus machen“, meinte die frisch geschiedene Agathe, die eben erst ihren eigenen Prince Charming beschrieb. „Mir ist wichtig, mich nie wieder auf einen Mann einzulassen, der Trompete oder Posaune spielt, das war ja kaum auszuhalten. Ich unterdrücke ein grenzdebiles Kichern, als ich mir einen älteren Herrn vorstellte, der neben Tante Agathes Bett steht und jeden Morgen um Fünf in militärischer Uniform zum Wecken bläst. Nein, dieses Gespräch muss ich ignorieren, bevor meine komplett zufälligen Assoziationen mich zum Bersten bringen, ermahne ich mich und suche einen anderen Weg, mich zu unterhalten.
„Kleines? Bist du noch da drin?“ Das frenetische Tippen auf meine Schulter lässt mich zusammenfahren. „Ja, Mama?“
„Immer träumst du herum“, scheltet sie mich, anstelle davon, aufs Thema zu kommen. Am liebsten hätte ich trocken entgegnet, ich habe nie einen Vertrag unterzeichnet, in dem stand, ich müsse mich bemühen, sie zu hören. Stattdessen führe ich mich (wie fast jedes Mal) wie die brave Tochter auf und sehe sie fragend an.
„Weißt du, ich bin so froh, hast du endlich jemanden gefunden. Das Leben ist alleine so schwer.“ Sie tätschelt meine Schulter, ganz so, wie eine Mutter eben stolz ist, wenn ihre Tochter, die sie für unvermittelbar hielt, endlich flachgelegt wird. Zugegeben, vielleicht bin ich etwas zu fies, nur hat man irgendwann oft genug gehört, man solle sich gefälligst an die Fließbandproduktion von Enkelkindern machen, obwohl man mehrfach erklärt hat, man wolle keine. Erst nach einigen Sekunden ringe ich mich zu einer von meinem omnipräsenten Lächeln begleiteten Antwort durch: „Nicht wirklich, man hat einen Job, arbeitet und verdient sein Geld – da ich etwas tue, das ich mag, finde ich das kaum schwer.“
„Ach Schätzchen, du weißt, was ich meine, wenn niemand dich liebt …“
„Mama“, flüstere ich peinlich berührt, „du sprichst zu laut, der ganze Tisch kann dich hören.“
„Dafür muss man sich doch nicht schämen“, lacht sie und ich wünsche mir einen großen Stein herbei, an dem ich mein Gesicht so lange zu Brei schlagen kann, bis ich endlich aus meinen Höllenqualen erlöst werde. „Du bist hat etwas sonderbar, Kleines, da hat man es schwerer im Leben. Ich mache mir Sorgen.“
Eigentlich mag ich ja meine Mama, bloß, wenn es darum geht, wer ich bin und was ich mit meinem Leben mache, geht sie mir gehörig auf den Keks. Und wen sie sich dazu entscheidet, laut über mein Liebesleben und meine Persönlichkeit zu diskutieren, dann nehme ich mir die Freiheit heraus, dasselbe zu tun. „Das musst du nicht, Mama. Von mir keine Enkelkinder zu bekommen bedeutet wohl kaum das Ende der Welt, ich habe ja noch zwei Schwestern, es ist eine Frage der Zeit, dann erledigt sich das Problem von selbst.“
„Wie kannst du sowas sagen?“ Dieser vorwurfsvoll-traurige Blick, der durch jede persönliche Integrität zu schneiden droht, jagt mir jedes Mal kalte Schauer den Rücken hinunter. Bevor ich etwas erwidern kann, fügt sie versöhnlicher hinzu: „Egal – das Wichtige ist, du hast jetzt jemanden. Und wer weiß …“ Sie macht eine Pause, um einen Schluck von ihrem Rotwein zu nehmen. „Du wirst dich schon auf Kinder freuen, wenn du erst mal schwanger wirst.“
„Mama“, seufze ich. Ich habe aufgegeben, meine Genervtheit zu unterdrücken, obwohl mittlerweile alle Anwesenden unserer kleinen Familien-Soap folgen. „Wenn man korrekt und vorsichtig kopuliert, wird man nicht ungewollt schwanger.“
„Hör auf, dich so unangebracht auszudrücken, das ich schäme mich für dich“, zischt sie mir sofort zu und ich unterdrücke den Impuls, mir die Hand vor die Stirn zu klatschen. Meine Mutter und ich, wir sehen die Welt sehr unterschiedlich und ich bemühe mich aufrichtig, auf sie einzugehen, nur, auch meine Geduld hat ihre Grenzen. Ich hätte ihr Schlafmittel in den Wein mischen sollen, dann könnte ich mir das alles ersparen, aber nein, als gute Tochter setzt man seine Eltern niemals unter Drogen. Da ich keine Anstalten mache, ihr beizupflichten, sondern trotzig mit den Schultern zucke, fährt sie verständnisvoll fort: „Wir wissen ja alle, wie schrullig du bist, genau darum freuen wir uns so, hast du endlich einen guten Mann gefunden, der für dich sorgt.“
Spätestens seit ihrer letzten Ermahnung habe ich meinen Vorsatz, ihr dazu später unter vier Augen mehr zu erzählen, über Bord geworfen und jetzt hat sie mir die Steilvorlage geliefert. „Mama … es gibt da zwei Dinge, die ich dir erzählen sollte …“
Totenstille kehrt im ganzen Garten ein, was mich zweifelsohne zur Heldin der lärmgeplagten Nachbarschaft macht. Meine Mutter starrt mich genauso erwartungsvoll an wie der Rest der Tischgesellschaft. „Was denn, Kleines?“
Ich will diesen Moment voll auskosten, immerhin hat man nur einmal im Leben die Gelegenheit dazu. „Ich bin verlobt.“
Mit einem Quietschen, das einem kleinen Mädchen würdig gewesen wäre, fällt mir meine Mutter um den Hals, den ich im letzten Moment noch so abdrehen kann, dass meine Luftröhre verschont bleibt. „Das ist ja wunderbar!“ Erst nach mehreren Sekunden lässt sie los und erkundigt sich: „Jetzt sag endlich, wie heißt er denn?“
Ich schlucke, nehme einen tiefen Atemzug. „Sie heißt Karin. Sorry, Mama, ich werde ganz sicher nie ungewollt schwanger.“