Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Lynn lehnte am Geländer der langen Rolltreppe und blickte den schrägen Tunnel entlang, den sie eben hinunterfuhr. Es war etwas später am Abend, als der grösste Ansturm auf das chronisch überfüllte Londoner U-Bahn-System bereits vorüber war. Lynn schloss für einen Augenblick die Augen und steckte ihre Hände in die tiefen Taschen ihres Mantels. Sie konnte den warmen Luftzug fühlen, der über ihre Wangen strich, den Mantel flattern ließ und ihr kurzes Haar nach hinten blies, als ein Zug in die Station einfuhr; eine angenehme Abwechslung zur bitteren Kälte draußen in der Stadt. Mit einem müden Seufzen öffnete sie ihre Augen wieder und konnte erkennen, dass die Rolltreppe bald zu Ende war. Sie schüttelte kurz und heftig den Kopf, so als wollte sie damit ihre Müdigkeit abschütteln, und schritt dann entschieden los, wobei sie die letzten Stufen hinunterging.
Der Bahnsteig der U-Bahn-Station war noch ziemlich belebt und die Menschen wuselten in dem für eine Großstadt üblichen Chaos durcheinander. Lynn ging gemächlich an der Kante entlang, ihren Kaffeebecher in der Hand. Mechanisch wollte sie einen Schluck nehmen und bemerkte erst dann, dass der Becher bereits leer war. Sie freute sich bereits auf das Gefühl der Erleichterung, wenn sie durch ihre Wohnungstür treten würde, abschließen konnte und sich schließlich in die Badewanne legen konnte. Jeder brauchte mal etwas Entspannung und das war auch bei der chronisch übermüdeten Lynn nicht anders. Nun hatte sie das Ende des Bahnsteigs erreicht, dort wo sich in wenigen Minuten die hinterste der roten Türen des leicht ratternden Zuges der Northern Line öffnen würde. Wie immer ging sie rasch im Kopf ihre Umgebung durch; der Zug würde sechs Wagen haben, zwischen denen man im Notfall durchgehen konnte, wobei jeder Wagen vier Türen hatte. Genügend Ausgänge, wenn sie es eilig haben würde, soviel war klar. Lynn seufzte und fragte sich insgeheim, weshalb sie diese Gewohnheit auch in ihrer Freizeit nicht abschalten konnte – nicht einmal in der Stadt, in der sie lebte – doch sie war sich sicher, dass sie diese Marotte ein Leben lang begleiten würde. Mache alten Gewohnheiten legte man einfach nie ab und leicht amüsiert stellte sie sich vor, wie sie auf ihrem Sterbebett im Fieberwahn über die Notausgänge und andere strategisch wichtige Positionen in der Leichenhalle sinnieren würde.
Ein Rascheln erschrak sie und ihre Hand fuhr instinktiv unter ihren Mantel, während sie sich rasch der Quelle des Geräusches zuwandte. Sie entspannte sich jedoch genauso rasch, wie sie zusammengefahren war, als sie eine kleine Maus entdeckte, die einige Meter neben ihr über den schmutzigen Boden des Bahnsteigs wuselte und nach etwas Essbarem suchte. Bei einem bunt bemalten Papierflieger, den wohl ein Kind früher am Tag hatte fallen lassen, machte der Miniatur-Nager Halt und knabberte an etwas undefinierbarem, das entfernt an den Rest von einem Hamburger erinnerte. Lynn musste lächeln, denn obwohl diese Tiere hier unten in den Stationen eine wahre Plage waren, genauso wie die mörderischen Heerscharen von Eichhörnchen im Hyde Park, so hatte sie doch immer wieder Freude, wenn sie eine Maus sah und fütterte sie manchmal, was sie bei ihren Mitmenschen sicherlich nicht beliebter machte. Immerhin wurden die meisten Mäuse, sobald sie in den Tiefen des Tunnelsystems landeten, von Ratten gefressen – nicht, dass damit die Sache besser würde.
Beiläufig warf sie einen Blick auf die Abfahrtstafel – noch zwei Minuten, bis die Bahn da sein würde. Gelangweilt kramte Lynn in ihrer Handtasche, mit irgendwas musste sie sich beschäftigen, bevor sie noch im Stehen einschlief und am Ende gar am Boden liegend neben ihrer neunen Lieblingsmaus aufwachte. Nach einigem Suchen fand sie ihren dunkelroten Lippenstift. „Immerhin besser als nichts“, murmelte sie, wohlwissend, dass sie sich gleich nachdem sie die Wohnungstür hinter sich zugemacht und ihre Schuhe in die erstbeste Ecke gekickt hätte, wieder abschminken würde. Sie wandte sich etwas vom Bahnsteig ab, sodass sie die Wand anblickte, und nahm ihren Schminkspiegel hervor. Als sie in der Reflektion ihre helle, beinahe schon weiße, Haut und die Augenringe erkennen konnte, wollte sie den Lippenstift gleich wieder wegstecken, verharrte jedoch in der Bewegung. Während aus den Tiefen des Tunnels bereits das Rumpeln des herannahenden Zuges zu vernehmen war, warf sie nochmals einen kurzen, prüfenden Blick in den Spiegel und mit einem Mal war sie wacher, als sie es durch die drei großen Café-Latte, welche sie nach dem langen Flug gekauft hatte, geworden war.
Dann ging alles sehr schnell. Noch bevor sie den kalten Stahl unter ihrem Mantel richtig in der Hand gehabt hätte, war der Angreifer auch schon bei ihr und bohrte ihr ein Messer zwischen die Rippen. Der Schmerz war so stark, dass Lynn das Gefühl hatte, sie würde jeden Augenblick ohnmächtig werden, doch der Teil ihres Verstandes, der noch klar arbeitete, sagt ihr, dass keine lebenswichtigen Organe verletzt worden waren. Während sie mit ihrer rechten Hand mehrmals abdrückte, ohne die Pistole zu ziehen, klammerte sie sich am Kragen ihres Gegners fest und ließ sich fallen, in der Hoffnung, ihn so zu Boden zu bringen. Ihre Schüsse hallten ungewohnt laut durch die Station, während sie beide, noch immer ineinander verkrallt, über die Bahnsteigkante herunterfielen und Lynn sich an der Schiene den Kopf aufschlug. Benommen sah sie sich um und begriff, dass sie in der Grube zwischen den beiden Gleisen gelandet war und das Messer noch immer in ihr steckte – erst dann erblickte sie den Unbekannten, der neben ihr quer über der einen Schiene zu liegen gekommen war, die offensichtlich noch nicht unter Strom stand. Ihr Gegner hatte wohl bloß einen Streifschuss abbekommen, denn er richtete sich eben auf und Lynn versuchte, mit der einen Hand endlich ihre Waffe richtig zu ziehen, doch dann begriff sie, dass es dafür zu spät war. Sie duckte sich in den Graben und schützte ihr Gesicht mit den Unterarmen, als die Bahn mit kreischenden Bremsen über sie hinwegraste und Funken unter den Wagen stieben. Sie konnte einen gequälten Aufschrei ihres Angreifers hören und fühlte, wie etwas Warmes auf ihre Beine spritzte, doch sie blieb reglos liegen, bis der Zug zum Stehen gekommen war. „Ich komme bald nach Hause“, ging es ihr durch den Kopf, während auf dem Bahnsteig das Chaos ausbrach, Menschen in Panik durcheinanderschrien und ein Polizist mit lauter Stimme für Ordnung zu sorgen versuchte.