Geppetto starrte nach unten in die Fabrikhalle seiner Spielwarenproduktion. Selbst durch die dicken Glasscheiben konnte er das Rumpeln der Maschinen hören, das Kreischen der Säge, das Hämmern der Stanze, ein immer gleicher, immer währender Rhythmus, in dessen Mitte seine Mitarbeiter wie Ameisen hin und her hasteten. Es war diese Kontinuität, die ihn mit Reue erfüllte, wann immer er an die Zeit zurückdachte, als alles anders gewesen war. Damals, als ihm das Schnitzmesser noch gut in der Hand gelegen hatte. Damals, als seine Hände noch nicht zu sehr gezittert hatten, sodass er selbst kleine Wunder aus Holz hatte erschaffen können. Damals, als es genauso leicht gewesen war, ein Stück Pinie zu formen wie seinen geliebten Hüttenkäse in dicke Stücke zu schneiden. Damals, als Pinocchio in sein Leben getreten war.
Der alte Mann seufzte und lehnte sich ein Stück in seinem Rollstuhl zurück, sodass er die Metallmonster nicht mehr erkennen konnte. Er hasste ihren Anblick, so wie er das hasste, was durch diese Spielzeugfabrik aus ihm geworden war. Und das alles war nur die Schuld seines Sohns. Während er mit leerem Blick die graue Wand mit den Bürotüren ihm gegenüber anstierte, dachte er voll Wehmut an den Anfang zurück. Jede Puppe, jedes kleine Auto war ein Einzelstück gewesen, etwas ganz Besonderes, das es so nur einmal auf der Welt gab. Sein Atelier war klein gewesen, aber bunt und anheimelnd, Farbkleckse wild verstreut vom Lackieren, Sägespäne in der Luft. Er hatte den Duft nach frischem Holz geliebt und oft experimentiert damit, wie verschiedene Arten zusammenpassten und harmonierten. Er war einer der besten Schnitzer seiner Zeit gewesen, vielleicht auch einer der besten der gesamten Menschheit. Doch jetzt war es zu spät, um das sagen zu können. Er hatte zu früh aufgehört, sich wirklich zu bemühen.
„Ach, hier bist du!“ Die Stimme, so fremd und gleichzeitig so vertraut, ließ ihn zusammenfahren und mit dem Ellenbogen gegen die Armlehne seines Sitzes knallen. Er stieß einen deftigen Fluch aus und wandte sich unwirsch zu dem Neuankömmling um, die Augen zusammengekniffen, die Lippen ärgerlich verzogen. Irgendein Gelenk knackte. „Junge, wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass du dich nicht so anschleichen sollst? Ich bin ein alter Mann, ich bekomme noch einen Herzschlag wegen dir!“ In seiner raspeligen Stimme schwang eine Kraft mit, die niemand mehr bei dem Anblick der schmächtigen, halb zusammengesunkenen Gestalt erwartet hätte. Vielleicht war es aber auch nur der Rest seines italienischen Akzents, der zwischen den Worten mitschwang und ihn so stolz, so vital erscheinen ließ.
Der Anzugträger zog ein schuldbewusstes Gesicht. „Tut mir Leid, Sir. Aber der Senator wartet, und ihr Sohn hat gesagt, dass….“ Geppetto wischte die Erklärung mit einer Handbewegung beiseite. „Ich kann mir schon denken, was mein Sohn gesagt hat“, murmelte er vor sich hin, während der Andere zögerlich hinter ihn trat und ihn den Gang entlang schob. Eine Weile dachte er darüber nach, was für einen Menschen er gerade vor sich gesehen hatte. „Sie sollten sich Ihr Haar ein wenig länger wachsen lassen“, merkte er schließlich an. Für einen Moment stockte der Schritt des Schiebenden. „Wie bitte?“, fragte er, unfähig seine Überraschung zu verstecken. Stumm lächelte der Alte in sich hinein. „Die Frauen werden Sie dafür lieben. Glauben Sie mir, ich sah auch einmal so aus wie Sie.“
Die monotonen Produktionsgeräusche waren in den Hintergrund getreten, während sie gemeinsam eine Rampe nach der anderen überwanden. Der Atem des jüngeren Mannes ging mittlerweile keuchend. Geppetto wusste, dass er nur an Büroarbeit gewöhnt war und die körperliche Anstrengung des Schiebens ihn riesige Überwindung kosten musste. „Was haben Sie denn angestellt, dass mein Sohn Sie zu mir schickt? Das ist doch Drecksarbeit“, wandte er sich an den erschöpften Mann hinter sich. Einen Moment herrschte Stille; der Andere schien sich seine Antwort gut überlegen zu müssen. „Ich habe mich freiwillig gemeldet. Ich wollte Sie kennenlernen“, gab er schließlich zwischen schweren Atemzügen zu und auch ohne ihn anzusehen, wusste Geppetto, dass er rot angelaufen war. Mittlerweile schnaufte er nur noch. „Mein Gott, nun machen Sie schon eine Pause, bevor sie noch zusammenklappen!“, raunzte er, auf seine schroffe und doch liebenswürdige Art. „Der Senator…“, versuchte der junge Mann zu widersprechen, doch auch dieser Einwand interessierte Geppetto nicht mehr. Er war zu alt, um sich um Dinge wie Senatoren, die seine Firma besichtigen wollten, zu kümmern. Dafür hatte er schließlich Pinocchio, der würde dem Politiker wahrscheinlich ohnehin mit Freuden die Stiefel lecken.
Auf der nächsten Geraden hielten die Beiden an und hüllten sich in Schweigen. Der Fabriklärm war kaum noch zu hören, doch er schien wie ein diffuser Bass noch immer den Boden zu durchdringen. Geppettos Hände zitterten und er schwitzte. „Seien Sie so gut und geben Sie mir aus der Tasche hinten im Stuhl mein Nasenspray.“ Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber der Boden schien zu vibrieren, so sehr, dass seine Bitte in dem Trommelwirbel fast unterging. Eilig löste sich der Jüngere von der Wand und holte das Gewünschte aus dem Beutel, der wie immer zwischen den Schiebegriffen des Rollstuhls baumelte. Mit heftig bebenden Händen führte Geppetto das Fläschchen zur Nase und die klare Flüssigkeit schoss unangenehm hoch bis in seine Nebenhöhlen. Er schniefte, zog tief die Luft in seine Lungen und schniefte erneut. Ihm war bewusst, was geschah, eigentlich hätte es schon viel eher geschehen müssen.
„Glauben Sie an die Geschichten, die man sich über mich und meinen Sohn erzählt?“ Die Raspelstimme war leiser geworden, sanft, als würde sie die Worte liebkosen. Wieder einmal überrascht von dem plötzlichen Stimmungsumschwung, schwieg sein namenloses Gegenüber, fuhr sich nur nervös mit der Hand durch die braunen Stoppelhaare. „Sie sind alle wahr. Mein Sohn ist wirklich aus Holz entstanden, vielleicht erklärt das rückblickend auch seine Herzenskälte. Er war es, der den Aufstieg wollte. Ich habe mich hier nie wohl gefühlt, mit dem Wummern der Maschinen …“ Einen Moment lang verstummte er, hing seinen eigenen Gedanken nach. „Ich hatte gehofft, dass ihn ein menschlicher Körper auch menschlicher machen würde, aber es hat nicht funktioniert.“ Eine winzige Träne huschte aus dem Augenwinkel des alten Mannes und folgte einer Falte seine Wange hinab, als müsste sie ein ausgetrocknetes Flussbett füllen. „Mein Teil des Handels war, dass ich nach meinem Tod den Platz der Pinie einnehme, die ich für Pinocchio verwendet habe. Ein Leben für ein Leben, so lange, bis der Nächste kommt und den gleichen Fehler macht wie ich. Ein ewiger Kreislauf. Und wenn der Baum geschnitten wird, werde auch ich meine Seele verlieren.“ Mit tieftraurigen Augen, die Pupillen leicht geweitet, starrte Geppetto seinen Mitarbeiter an. „Ist es denn wirklich Ketzertum, nicht allein sein und einen Sohn haben zu wollen? Ist es denn so verkehrt, sich ein Kind zu wünschen?“
Stille senkte sich erneut über das ungleiche Paar. Geppetto erhielt keine Antwort. Jedes Wort entsprach der Wahrheit, doch wer sollte ihm das schon glauben? Er wusste nicht, wie oft er sich verflucht hatte dafür, dass er sich nicht wie jeder andere eine Frau gesucht hatte und mit ihr glücklich geworden war. Stattdessen hatte er seine Zeit der Schnitzerei gewidmet und einem Holzspielzeug, das er viel zu lange für besonders hielt. Die Gefahr hatte er erst viel zu spät erkannte. Er wollte nicht wissen, was Pinocchio tun würde, wenn er Mensch und sein Vater Holz sein würde. Die Welt würde es sehr bald erfahren müssen.
„Lassen Sie uns zum Senator gehen“, erklärte Geppetto. Er würde mit dem Mann reden müssen, damit dieser Pinocchio nicht freie Hand ließ. Er würde hoffen müssen, dass das genug wäre, wenn er einmal nicht mehr da sein würde, um seinen Sohn zu stoppen.