Jarvis braucht vier Dinge

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Mister Peterson, schon wieder hier?“ Hank Lewis‘ Wärteruniform verlieh seiner ohnehin stattlichen Erscheinung noch mehr Autorität. Ebenso zackig, wie er durch den Flur marschierte, hielt er abrupt vor Adrien an, klopfte diesem grinsend auf die Schulter und erkundigte sich: „Na, welchen haben Sie denn heute? Den Harris-Jungen?“
„Nein. Jarvis Williams, häusliche Gewalt“, gab der Rechtsanwalt zurück und folgte Hank zum an den Hof grenzenden Besuchertrakt.
„Mir ist schleierhaft, wie Sie das machen. Sitzen den ganzen Tag gegenüber von solchen Mistkerlen und hören sich deren Blödsinn an. Eyeyey.“ Den Kopf schüttelnd schloss er den Besprechungsraum auf.
„Das höre ich oft“, schmunzelte Adrien und lockerte seine Krawatte. Beinahe alle seine Klienten waren schuldig, der Bodensatz der Gesellschaft und keiner riss sich darum, Drogendealer, Schläger oder Einbrecher zu vertreten. Er riss sich ebenso wenig darum, sich die teils abartigen Geschichten hinter den Verbrechen anzuhören, allerdings mochte er die Herausforderung. Das Wetteifern gegen die Anklage entsprach seiner kompetitiven Persönlichkeit.
„Scheiße, ich bräuchte mindestens vier randvolle Gläser Single Malt, um ein Schwein wie Williams zu verteidigen.“
„Denken Sie, es ist Zufall, dass in meinem Berufsstand der Alkoholismus grassiert?“ Er zwinkerte Hank zu, der sich offensichtlich unsicher war, ob Adrien scherzte.
„Kann ich mir vorstellen“, entschied er sich schließlich, die Bemerkung ernst zu nehmen. „Nun, der Typ gehört Ihnen. Sie kennen das Prozedere.“ Der Anwalt nickte, als Hank ihm die Tür öffnete und ihn eintreten ließ.
„Oy, Wächter Lewis“, rief der Mann, der mit Handschellen an den Tisch gekettet in der Mitte des Zimmers wartete, aufgeregt. „Oy, lass mich raus!“
„Wir sehen uns, Peterson“, meinte der Wärter, den Tumult ignorierend und wandte sich zum Gehen.
„Ja, wir sehen uns. Grüße an die Kinder.“ Hank drehte sich nicht um, hob die Hand und eilte den Gang hinunter in Richtung des Zellentrakts.
„Oy!“, forderte Jarvis Williams Aufmerksamkeit. Bestimmt beeindruckte sein harter Blick viele, doch Adrien kannte seine Sorte, sah hinter die Fassade. Der vierundvierzigjährige Drogendealer hatte sich äußerlich perfekt an sein Umfeld angepasst. Von der drohenden Körperhaltung, über die unscharf gestochenen Tattoos bis hin zum Slang, er war ein Abbild seiner Kultur.
„Mister Williams. Sie erinnern sich an mich? Adrien Peterson, Ihr Anwalt“, begann er, wenig hoffnungsvoll, den professionellen Tonfall längerfristig beibehalten zu können. Er stellte seinen Aktenkoffer auf den Tisch, öffnete diesen und nahm einige Unterlagen heraus, bevor er sich hinsetzte.
„Ich habe nichts gemacht, Mann.“ Adrien hielt inne. Angelogen zu werden war er sich gewohnt, damit hatte er sich abgefunden und wusste, was zu tun war.
„Mister Williams“, seufzte er, linste auf dessen Akte und schob sie ihm dann demonstrativ langsam zu. „Mister Williams, das Thema hatten wir bei unserem letzten Treffen bereits. Es liegen vier Zeugenaussagen gegen Sie vor, darunter die des Opfers und des behandelnden Arztes.“
„Die Schlampe erzählt nur Scheiße!“, empörte er sich fuchtelnd und plusterte die Brust auf. Statt von der aggressiven Geste wegzurücken, beugte sich Adrien nach vorne und schaute Jarvis Williams dabei zu, wie er sich beruhigte. „Nur Scheiße“, wiederholte er jetzt plötzlich kleinlaut.
„Mister Williams, ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Sie müssen offen zu mir sein. Wir haben noch vierundvierzig Minuten, verschwenden Sie die nicht mit Lügen. Okay?“
Der Angesprochene zögerte, verschränkte trotzig die Arme, ehe er zustimmend brummte.
„Sehr schön, vielen Dank.“ Sein einstudiertes Lächeln präsentierend, lehnte sich Adrien zurück und widmete sich erneut den Dokumenten. „Also, weshalb glauben Sie, wurden Sie festgenommen?“
„Weil meine Frau die Bullen gerufen hat“, erwiderte er nach einer kurzen Pause. Der Verteidiger lächelte weiterhin gelassen, obschon er die Fotos aus dem Polizeibericht vor sich hatte.
„Okay. Können Sie sich vorstellen, warum sie das getan hat?“
„Weil sie eine dreckige Hure ist und Geld von mir will“, nuschelte Jarvis auf seinen Händen knetend. Innert weniger Minuten war seine Stimmung gekippt, er war vom angriffslustigen Typen zum verängstigen Jungen mutiert, eine Wandlung, die Adrien fast täglich beobachtete. Besonders bei denen, die noch nie im Gefängnis waren.
„Haben Sie sie deswegen geschlagen?“
„Nein.“
„Mister Williams“, holte er aus und harrte aus, bis dieser aufsah. „Mister Williams, weshalb haben Sie Misses Williams geschlagen?“
„Weil sie …“ Er unterbrach sich und schnaufte tief ein. „Weil sie Teller nach mir warf.“
„Okay.“ Die Schilderung deckte sich mit dem Polizeibericht. Ob sich die Jury sich überzeugen ließe, er habe seine Frau aus Notwehr krankenhausreif geprügelt, war zu bezweifeln. Wenn es um häusliche Gewalt ging, waren sich Rechts wie Links ausnahmsweise einig: Keiner wäre gewillt, einen, der gegen seine knapp einen Meter fünfzig große Frau handgreiflich geworden war, ungeschoren davonkommen zu lassen. „Glauben Sie, das war richtig?“ Natürlich war Sympathie käuflich, leider verfügten weder Jarvis Williams noch seine Familie über die Mittel, die dazu notwendigen Untersuchungen sowie Experten zu bezahlen.
„Nein?“ Es klang wie die Frage eines Schülers und genau das war das Problem. Jarvis wirkte keineswegs kindlich, im Gegenteil. Sein rohes Äußeres, die schiere Kraft, die er ausstrahlte, vor allem aber die Gesichtsverletzungen seiner Frau, waren schwer damit in Einklang zu bringen, dass er lediglich ein Opfer der Situation sein könnte. Diese Unstimmigkeit würde zwangsläufig als Unehrlichkeit gewertet werden und nichts verärgerte die Jury mehr.
„Mister Williams, glauben Sie, Ihre Frau mag es, wenn sie geschlagen wird?“
„Nein.“
„Okay. Und glauben Sie, die Polizei kommt gerne zu Ihnen?“
„Nein.“
„Okay. Glauben Sie also, es war richtig, Ihre Frau zu schlagen?“
„Nein.“ Eine aufrichtige Antwort, somit ein Anfang.
„Okay.“ In Adriens Kopf formte sich eine Strategie, eine, die er des Öfteren verwendet hatte, um für Täter Strafmilderung zu erwirken. Wer die oben in der Hierarchie umstimmen wollte, jemandem von unten milde anzupacken und Fehler zu verzeihen, brauchte vier Dinge.
„Mister Williams, können Sie das so vor Gericht aussagen? Dass Sie verstehen, wie falsch Ihr Handeln war?“ Ein ehrliches Schuldgeständnis, das Besserung verspricht.
„Ja.“
„Überlassen Sie mir den Teil mit dem Übergriff Ihrer Frau.“ Ein nachvollziehbares Motiv für die Tat, das fachmännisch aufbereitet wird.
„Ja.“
„Okay, sehr schön. Meinen Sie, es ist möglich, dass Ihre Familie zum Gerichtstermin erscheint?“ Eine persönliche Note, Menschen, die noch an den Angeklagten glauben.
„Ja, Momma kann kommen.“
„Okay. Mister Williams, sind Sie bereit, sich mit zwei Jahren Haft, einem davon auf Bewährung abzufinden?“ Zu guter Letzt eine realistische Vorstellung davon, wie viel Strafe die Laien im Juryraum befriedigt.
„Ja.“ Jarvis sah weg, seiner Stimme war die Angst anzuhören. Da sammelte Adrien seine Unterlagen zusammen, klappten den Aktenkoffer zu und erhob sich. Routiniert lächelnd verabschiedete er sich von seinem Klienten und fühlte Genugtuung, als er die Tränen entdeckte. Ja, er mochte seinen Beruf, sah zu gerne Schläger wie Jarvis gegen die Panik kämpfen.

Autorin: Rahel
Setting: Besprechungszimmer
Clues: Oben, Unten, Links, Rechts, Mitte
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