Abwesend ließ ich meinen Blick durch das dürftig besetzte Restaurant schweifen, als der Kellner meine letzten Teller abräumte und ich meinen Espresso bestellte. Der Regen prasselte gegen die bodentiefen Fenster, die mit Zimmerpflanzen verstellt worden waren, wohl damit die Gäste nicht wie Reptilien in einem Terrarium ausgestellt waren. Doch das Grünzeug gab mir kein besseres Gefühl bei der Sache, denn wie jeder Zoobesucher wusste, gab es auch begrünte Terrarien und eine Ausstellungen von dinierenden Homo Sapiens war alles, was da noch fehlt. Draußen flammten bereits die Straßenlaternen auf, um den stürmischen und nassen Herbstabend zu erhellen. „Verdammtes Hundswetter“, murmelte ich indigniert und fuhr zusammen, als ich realisierte, dass der Kellner mit meinem Kaffee hinter mir gestanden war. „Sorry“, murmelte ich und hatte den Verdacht, dass dabei meine Ohren rot geworden waren. Er lächelte mir wortlos zu und stellte das Tässchen zusammen mit dem Süßstoff vor mich hin, bevor er wieder verschwand. Etwas paranoid stellte ich mir vor, wie er mit dem Koch zusammen Witze über die Frau am Fensterplatz machte, die leise vor sich hin fluchte. Dann griff ich nach der Tasse, streckte meinen fast zu dicken Finger durch den kleinen Henkel und trank einen Schluck.
Das Schlürfen wurde zu einem erschrockenen Gurgeln, als ich sie erblickte. Sie war schlank, großgewachsen, hatte grüngraue Augen und langes, glattes, rotblondes Haar. Eben faltete sie den triefenden Regenschirm zusammen uns stellte ihn in den dafür vorgesehenen metallenen Ständer und sah sich danach kurz um. Bevor ich mich endgültig verschluckte, stellte ich die Tasse ab und nahm einen tiefen Atemzug, um mich zu beruhigen; das konnte einfach nicht wahr sein, sie konnte nicht wahr sein! Sie erblickte mich und schritt geradeswegs auf meinen Tisch zu, während sie den Knöchellangen, schwarzen Mantel aufknöpfte und im Gehen auszog. Bei mir angelangt, deutete sie vage auf den Stuhl mir gegenüber und fragte mit einer Stimme, die einer Jazzsängerin würdig gewesen wäre: „Darf ich?“
Vor dem Fenster tuckerte einer der roten Doppeldeckerbusse vorbei und mit einem lauten Klatschen wurde eine halbe Pfütze auf die Scheibe gespritzt. „Sicher“, krächzte ich heiser und fügte dann verunsichert hinzu: „Bitte.“
Sie setzte sich und schaute mich dann fragend an, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich schwieg und hatte das Gefühl, als ob ich eingefroren wäre, als ob ich unter Schock stand. Schließlich, mit einiger Überwindung, fragte ich: „Laetitia?“
„Natürlich“, entgegnete sie gelassen. „Diese Frage ist redundant, du weißt wer ich bin. Ist nicht die richtige Frage, wieso ich hier bin, oder hat dein Verstand bereits alle Aspekte der Situation erfasst und diese ganze Geschichte für dich zu einem nicht enden wollenden Konundrum wachsen lassen?“
Sie sprach tatsächlich so – unglaublich! „Niemand spricht so“, murmelte ich. „Du bist nicht real.“
„Eine naheliegende Antwort, welche dich in deiner Verweigerungshaltung bestätigt. Und trotzdem sitze ich dir gegenüber und warte auf Antworten.“
„Moment“, unterbrach ich sie, mittlerweile so verwirrt, dass ich nicht mehr wusste, was ich von der Sache denken sollte. „Du willst Antworten? Wie soll ich dir Antworten geben, wenn ich nicht einmal weiß, warum du hier bist?“
„Und was willst du denn wissen?“, fragte sie mit einem amüsiert-ironischen Unterton und lächelte mich an.
„Du bist eine fiktive Figur aus einem Roman, den ich geschrieben habe – was verdammt nochmal tust du hier?“
„Das ist deine einzige Frage?“, entgegnete sie rhetorisch, bevor sie fortfuhr zu sprechen, wie immer ohne auch nur eine Atempause zu machen. „Entweder dein Verstand produziert eine Projektion, sprich ich bin eine Einbildung, so flüchtig wie Helium, das aus einem Ballon entweicht, oder aber ich bin real und dann musst du dein ganzes mühsam erworbenes Weltbild über den Haufen werfen. Allerdings ist er für mich irrelevant, wieso ich da bin, außerdem bin ich jetzt dran.“ Endlich machte sie eine Pause, doch nicht für lange. „Mal ehrlich: Hast du sie noch alle?“
„Hä?“, fragte ich und schaffte es noch gerade, meinen Mund zu schließen, statt sie verständnislos anzustarren.
„Du bist ein wirklich unhöflicher Mensch, weißt du das?“ Sie massierte kurz die Nasenwurzel, offenbar war sie tatsächlich aufgebracht. „Du hast mich nach deinem Ebenbild erschaffen, weil du nicht einmal kreativ genug warst, eine neue Figur zu erfinden. Ich bin du, zumindest so wie du dich selbst gerne sehen würdest. Die Geheimagentin mit diversen Kampfausbildungen, die eine wirklich schwere Kindheit hatte, dann nimmst du noch zehn Kilo und fünf Jahre weg und machst die Haut glatter.“ Sie ergriff meine Tasse und trank den Espresso aus, bevor sie fortfuhr. „Ach ja, dann fügst du noch ein paar Ticks und Marotten hinzu und machst mich intelligenter als dich, gar eloquenter, damit du noch ein wenig dein Sprachkönnen zeigen kannst und trotzdem hatte das Buch nicht viel mehr Inhalt als ein billiger Actionfilm aus Hollywood. Ich bin wie du, doch nicht so, wie du wirklich bist, sondern so, wie du gerne wärst, ein unerreichbarer Traum, eine Illusion.“ Sie machte nochmal eine Pause, starrte mich kalt an und fügte dann hinzu: „Hast du eigentlich auch nur die geringste Ahnung, wie anstrengend das ist?“
„Es tut mir leid“, gab ich kleinlaut zurück. Doch dann fiel mir etwas ein: „Aber das Buch hatte doch Erfolg, ist das denn nichts wert?“
Laetitia zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, es interessiert mich nicht, ich habe mich seitdem weiterentwickelt.“
„Das kann ich sehen“, entgegnete ich und war im selben Augenblick selbst erstaunt über meine Bissigkeit.
„Hey, beschwer dich nicht, ich wollte dir doch nur helfen“, entgegnete sie plötzlich grinsend. „Du könntest eine bessere Schriftstellerin werden.“
„Okay, und wie…?“
„So, ich muss los“, unterbrach sie mich. „Ist ja nicht so, als wäre ich einfach nur im Urlaub, ich habe einen Auftrag in dieser Stadt.“
Ohne sich zu verabschieden erhob sie sich, schob den Stuhl an den Tisch zurück und zog sich ihren Mantel an, während sie auf den Ausgang zuschritt. Sie hatte sich ihren Schirm gegriffen und war durch die Tür verschwunden, bevor ich etwas hätte sagen können.
Der Kellner tauchte mit der Rechnung an meinem Tisch auf, offenbar hatte er gleich Feierabend. Mechanisch bezahlte ich und nahm schließlich meinen ganzen Mut zusammen. „Haben Sie die Frau an meinem Tisch eben auch gesehen?“
„Natürlich“, erwiderte er. „Ihre Schwester?“
„Vielleicht“, murmelte ich und fragte mich mehr denn je, was gerade passiert war.