Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Dies ist der 7. Teil der Fortsetzungsgeschichte „107 Minuten“.
Remo stand geknickt aber dennoch ruhig im Hausflur und hatte die Hand ausgestreckt um sich seine Jacke zu greifen. „Lea“, sagte er leise, währendem er kontrollierte, ob sein Schlüssel in der Tasche steckte. „Ich glaube es wäre besser, wenn ich erst einmal gehe.“ Die Angesprochene haschte erschrocken nach Luft und wollte gerade wieder losschreien, als sie von der gedämpften, vom Streit erschöpften Stimme ihres Freundes unterbrochen wurde. „Ich verstehe ja, dass wir miteinander reden müssen, aber so hat das Ganze nun wirklich keinen Sinn.“ Er seufzte einmal und Lea hätte ihm wegen dieser Geste der Resignation am liebsten eine mit dem Handrücken gescheuert. „Ich glaube es wäre am besten, wenn wir uns erst einmal getrennt voneinander beruhigen und wenn die Stimmung etwas abgekühlt ist, komme ich wieder und wir können uns in Ruhe aussprechen, okay?“
Wutentbrannt stapfte Lea durch den Flur und entriss Remo die Jacke, nur um sie ihm gleich mit Wucht an den Kopf zu schleudern und ihn anzuschreien: „Ach, verpiss dich doch, du Arschloch!“
Traurig und mehr als deutlich enttäuscht verließ Remo die gemeinsame Stadtwohnung, jedoch nicht ohne seiner Freundin vorher noch einmal zu versichern, dass er sie trotz ihren Schwierigkeiten liebte. Lea knallte zur Antwort wortlos die Tür hinter ihm ins Schloss und stieß einen verkrampften Schrei aus, während sie fuchsteufelswild durch die verlassene Wohnung marschierte und die zerbrochene Tasse, welche sie vorhin in der Hitze des Gefechts in die Ecke gedonnert hatte, mit einem erneuten Wutschrei wegkickte.
Vollkommen entnervt band sie keine Minute später ihre schulterlangen blonden Haare mit einem alten Haargummi zusammen und starrte einige stille Sekunden auf das Telefon, bevor sie Lydias Nummer wählte.
„Hallo Lea“, meldete sich ihre Kollegin mit gutgelaunter Stimme.
„Lydia“, begann Lea und versuchte, sich ihre Aufgebrachtheit nicht allzu sehr anhören zu lassen, „ich hatte wieder einmal Streit mit Remo.“
Es folgte ein kurzes Schweigen, dann erklang wieder Lydias Stimme: „Oh je. Was ist denn passiert?“
„Er hat nie Zeit für mich“, entgegnete sie und beherrschte sich, um nicht zu laut zu werden. „Ständig geht er mit den blöden Jungs aus und schaut sich dämliche Fußballspiele an!“
„Oh“, murmelte ihre Freundin mitfühlend, offenbar schien sie nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Nach einer langgezogenen Pause schlug sie vorsichtig vor: „Vielleicht solltet ihr in Ruhe darüber sprechen, wenn ihr euch etwas abgeregt habt?“
Lea war drauf und dran ihre Kollegin anzuschreien, was ihr eigentlich einfalle, sie mit irgendwelchen abgedroschenen Phrasen abzuspeisen, statt richtig auf sie und ihre Gefühle einzugehen, doch dann besann sie sich einer Besseren. Angespannt versuchte sie kontrolliert zu reagieren, schließlich wollte sie doch nur, dass Lydia für sie da war!
Etwas ruhiger entgegnete sie: „Nein, diesmal war es wirklich schlimm! Er muss mich auch mal verstehen und wahrnehmen, ich habe schließlich auch Bedürfnisse, weißt du?“
„Sicher“, entgegnete Lydia sofort, wirkte jedoch etwas abwesend. Lea konnte ein Scheppern im Hintergrund hören und fragte sich, wie ihre angeblich beste Freundin in der Küche hantieren konnte, wenn sie ihr in so einer Situation beistehen sollte. „Er hat mich geschlagen“, sagte sie stoisch – auch wenn es nicht stimmte, würde es die selbstsüchtige Lydia sicher dazu bringen, ihren faulen Arsch hierherzubewegen. „Und er hat gesagt, dass er zurückkommen wird.“
„Ich komme sofort“, erklang Lydias schockierte und hastige Antwort. „Ich bin gegen neun Uhr bei dir.“
Rastlos tigerte Lea durch die gemeinsame Wohnung, das Warten auf Lydia dauerte nun schon eine gefühlte Ewigkeit, auch wenn ihr Telefonat erst ein paar Minuten zurücklag. Zuerst hatte sie ein paarmal tief durchgeatmet, doch die Unruhe und der nur schlecht unterdrückte Zorn ließen sie nicht los. „Wieso geht er nicht mehr auf mich ein?“, fragte sie sich. „Früher hat er darauf regiert, wenn ich ihm gezeigt habe, was ich wollte, jetzt hingegen nimmt er sich gar keine Zeit mehr für mich.“ Es sollte doch nicht so schwer sein, ihre subtilen Zeichen zu erkennen, sinnierte sie gehässig. Es konnte doch nicht so gottverdammt schwer sein, oder? Sie versuchte ihre rohe Wut zu unterdrücken, doch es wollte ihr nicht mehr gelingen und sie murmelte, seinen Tonfall nachäffend: „Aber Schatz, ich gehe doch nur an einem Abend in der Woche mit meinen Freunden Fußball gucken. Ich brauche auch irgendwann etwas Zeit für mich.“ Lea atmete scharf ein und trat in Rage gegen die Schlafzimmertür, an der sie gerade vorbeigekommen war. „Dieser scheiß Mistkerl!“, rief sie aus und fragte sich, wieso Remo ein paar Männer, die einer Lederkugel hinterherrannten, wichtiger waren als ihre Bedürfnisse. „Fußball, der ist ihm verdammt wichtig, was? Sogar wichtiger, als ich?“ Sie wollte etwas zerstören, etwas zu Trümmern schlagen, einfach komplett ausrasten. Rasend stampfte sie ins gemeinsame Schlafzimmer, riss die Schublade mit Remos T-Shirts aus dem Kleiderschrank, sodass sie mit einem dumpfen Knall auf den grauen Spannteppich fiel. Wahllos zerknüllte sie Klamotten und warf sie in alle erdenklichen Richtungen, bis sie sein Trikot fand. „Immer nur du und deine dummen Fußballkumpels. Ich werde dir zeigen…“, zischte sie, ohne zu wissen, wie sie den Satz zu Ende bringen sollte, also packte sie das sorgfältig gefaltete Hemd an zwei Enden und zerrte mit aller Kraft daran. Das ratschende Geräusch, als die Naht nachgab und die Enden des Stoffes ausgefranst zerrissen, erfüllte sie mit Befriedigung. In ihrem Wüten warf sie die Fetzen weg und suchte ein zweites Trikot hervor, während durch die verlassene Wohnung schrie: „Da hast du deinen verfluchten Spaß, du rücksichtsloser Bastard!“
Erschöpft und niedergeschlagen saß Lea nach ihrem emotionalen Ausbruch im Schlafzimmer auf der Toilette und nutzte die kurze Auszeit, um sich mit dem Gedanken daran zu trösten, dass Lydia bald da sein würde um sie aufzumuntern. Lea hasste es alleine zu sein und obwohl sie wusste, dass ihr Verlangen nach ständiger Aufmerksamkeit immer mehr zu einem Problem geworden war, hatte sie nicht im Geringsten vor das zu ändern. Stattdessen überlegte sie sich, wie sie vorgehen könnte, um wenigstens Lydia davon zu überzeugen, sich so zu verhalten, wie sie es sich von ihren Mitmenschen wünschte.
Gelangweilt, beinahe entspannt, spielte sie mit der Klopapierrolle und wischte schlussendlich ab, um sich vor den Spiegel stellen zu können. Beiläufig bemerkte sie, dass sie trotz der aufwühlenden Ereignisse gar nicht so schlecht aussah, rückte ihr Oberteil zurecht, strich ihr zerzaustes Haar glatt und als sie ihren Lippenstift nachziehen wollte, kam sie auf eine, in ihren Augen geniale, Idee. Mit einem unterdrückten, leicht hämischen Lachen kramte sie den roten Lipliner aus ihrem Schminkbeutel und setzte ihn am Winkel ihrer hellblauen Augen an. „Lydia soll ruhig sehen, dass ich geweint habe“, überlegte sie sich und plante aufgeregt, wie sie ihrer Freundin am besten weismachen könnte, dass es ihr heute besonders schlecht gehe, dass sie viel Zuwendung brauchte, um die letzten Stunden und das vermeintlich Geschehene verarbeiten zu können. Lea dachte angestrengt nach und entschied schlussendlich, ihrer Geschichte mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, indem sie ihre weinrote Seidenbluse, von der Lydia wusste, dass es ihr Lieblingsstück war, anziehen und einige Knöpfe abreißen würde.
Als das Telefon einige Zeit später klingelte, griff Lea genervt und unruhig nach dem Hörer und drückte, ohne nachzusehen wer anrief, auf die grüne Taste. Patrizias besorgte Stimme meldete sich und sie sprach hastiger als sonst: „Lea? Ist Remo bei dir?“
„Nein, wieso?“, entgegnete sie gereizt. Seine Mutter hatte ihr jetzt gerade noch gefehlt, dachte Lea. Nicht genug, dass die liebe Frau Krämer keine Gelegenheit ausließ, ihr zu verstehen zu geben, dass sie sie nicht leiden konnte, nein, sie hatte auch noch ein fürchterliches Timing! „Wenn du ihn siehst, könntest du ihm bitte sagen, dass er mich sofort anrufen soll? Ich brauche seine Hilfe“, fügte Patrizia hinzu, schluckte hörbar und fuhr weinerlich fort: „Ich kann ihn nicht auf dem Handy erreichen und hier ist…“
„Ich glaube nicht, dass ich ihn so bald wiedersehe und überhaupt, dein verzogener Bengel kümmert sich ja sowieso nur um sich selbst!“, schnitt Lea ihr harsch das Wort ab, legte auf und warf den schnurlosen Hörer auf die Couch. Remo konnte ihr gestohlen bleiben, zusammen mit seiner blöden Mutter, die es nie weiter als bis zur Kioskfrau gebracht hatte. Warum, ging es ihr durch den Kopf, warum vermaledeit nochmal war Lydia noch immer nicht da? Es war schon zwanzig Minuten vor zehn und noch immer keine Spur von ihrer ach so loyalen Kollegin! Dabei hatte sie gehofft, dass Lydia eine bessere Kameradin abgeben würde, als Monica, bei welcher sie sich absichtlich nicht mehr gemeldet hatte, nachdem sie ihr vorgeworfen hatte, sie wäre eine Dramaqueen. „Ach, leck mich doch!“, fauchte sie in den stillen Raum, doch niemand antwortete.
Leas Enttäuschung über Lydias Unpünktlichkeit uferte allmählich in unbeherrschte Raserei aus und entflammte ihre scheinbar unbegrenzte Streitsucht erneut, bis sie schlussendlich ihren Platz auf dem Sofa, auf dem sie sich nach dem Telefonat, wie schon zuvor in einer möglichst mitleiderregenden Position drapiert hatte, aufgab und in die Küche schritt. Schwungvoll öffnete sie das Hängeregal, in welchem das Junggesellenservice ihres Freundes gelagert war und begann damit, jedes Stück einzeln auf dem kalten gefliesten Boden zu zertrümmern, doch wiedererwarten beruhigte sie das laute Scheppern nicht und so steigerte sie sich mit jedem zerschlagenen Teller weiter in ihre Rage. „Verdammte Scheiße!“, kreischte sie heiser, als die letzte Kaffeetasse in Scherben war und überlegte sich dabei, wie sie ihrer langjährigen Gefährtin ordentlich die Leviten lesen könnte, sobald diese auch nur einen Schritt in ihre Wohnung machen würde. In Gedanken malte sie sich aus, wie sie Lydia für ihre inakzeptable Verspätung in Zeiten der Not zur Rechenschaft ziehen könnte und grübelte beinahe fieberhaft, welche Worte sie wohl am meisten verletzen würden. Immerhin, sinnierte Lea mit einem selbstgerechten Grinsen auf den Lippen, hatte sie es verdient eine Freundin zu haben, die sich um sie sorgte und ihr beistand, genauso wie sie einen Freund verdient hätte, der auf ihre Wünsche einging und ihr verflucht nochmal nicht ständig widerspricht.
Als Lea, in ihre Rachegelüste vertieft und mit nackten Füssen, vor dem riesigen Scherbenhaufen stand, den sie verursacht hatte, dämmerte ihr plötzlich, dass Lydia nun wohl wirklich jede Minute bei ihr eintreffen müsste und so griff sie, ohne weiter zu überlegen und ihren Plan zu hinterfragen, nach einer der Scherben. Sie sah kurz hoch, als die Glocken der Quartierskirche viertel vor zehn Uhr schlugen und zögerte dann nur kurz, bevor sie den messerscharfen Keramiksplitter tief in ihre Schlagader grub. Das würde diese egoistischen Arschlöcher lehren, ihre Gefühle einfach so zu missachten, dachte sie sich und lächelte in tiefer Genugtuung.