Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Wie ein endloser Torbogen türmte sich das massive Gestein über ihm auf und führte ihn unweigerlich weiter in die schummrige Dunkelheit, in welcher er den Staatsfeind Nummer 8 vermutete. Ein kurzer Blick auf seine schwarze Rolex verriet Joe dem Agenten, dass er gut in der Zeit lag und lange vor seinem ärgsten Opponenten den verlassenen Bahnhof erreichen würde und das, obwohl er sich beim Dinner sinnloserweise zu lange hatte aufhalten lassen. Ohne es auch nur zu erahnen hatte Diana die Tochter ihm während ihrer unschuldig scheinenden Konversation über Lachsfilet und Steak, so viele versteckte Informationen gegeben, so dass es ein Leichtes für ihn war, den Aufenthaltsort ihres Vaters zu finden. Sie hatte ihn danach mit einem Kuss, der nach Kaffee und Zigaretten geschmeckt hatte, verabschiedet und war durch den roten Samtvorhang verschwunden, hinter welchem drei Polizisten in Zivil auf sie warteten, um sie festzunehmen.
Paul Parker, oder Mastermind, so wie ihn viele nannten, hatte es sich zum persönlichen Ziel gemacht, die Stadt nicht nur durch sein kriminelles Netzwerk zu kontrollieren, sondern die Polizei mit strategisch platzierten und gut versteckten Wasserstoffbomben in Schach zu halten. Natürlich hatte zuerst niemand auf seine lächerlich scheinenden Drohungen reagiert, aber seitdem der vierzehnte Distrikt in Schutt und Asche lag, wagte es keiner mehr an der diabolischen Willenskraft dieses einzigartigen Bastards zu zweifeln. Denn wenn Mastermind etwas wollte, war ihm jedes Mittel recht um es zu bekommen – selbst wenn er dazu die ganze verfluchte Stadt und ihre Bewohner in die Hölle schicken musste.
Vorsichtig und darum bemüht keinen unnötigen Lärm zu verursachen, kletterte Joe der Agent auf den bereits zerfallenden Bahnsteig und ging danach sofort hinter einer bröckeligen Säule in Deckung, wo er erstmal die schwere Taschenlampe auf den Boden stellte und sich versicherte, dass seine kleine Handfeuerwaffe wirklich geladen und entsichert war. Er drückte das Suchgerät dicht an seine Brust, damit das schwache Piepsen und das Aufleuchten der winzigen LED, welche ihm anzeigten, dass das Ding ordnungsgemäß funktionierte, in seiner Kleidung erstickten. Er war zwar sicher, dass Mastermind noch nicht hier war, doch wer gegen einen solchen Feind kämpfte, konnte nie paranoid genug sein.
Mika der Betrüger hustete keuchend und musste seinen Schritt vorerst verlangsamen, bevor er sich weiter über den losen Schotter des stillgelegten Eisenbahntunnels schleppte. Alles war mehr oder weniger genauso gelaufen wie er es geplant hatte und das obwohl sein dummer Zellengenosse gerade heute hatte krank werden müssen. Er hätte dem Idioten einfach etwas Paracetamol gegeben, aber seitdem einige Häftlinge auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen waren, bestand die Gefängnisleitung darauf, jeden der einmal zu laut genießt hatte, sofort ins Krankenzimmer zu bringen und die gesamte Zelle zu desinfizieren – was für eine irrsinnige Verschwendung von Steuergeldern, dachte sich Mika der Betrüger und grinste schief.
Erneut hielt er in seinen trabenden Schritten inne, doch dieses Mal war es nicht ein Hustenanfall, der ihn dazu veranlasste, sondern ein schwaches, grünliches Licht in der Ferne. Ratlos kratze er sich durch sein vom Durchbruch durch die Zellenwand verstaubtes Haar und überlegte einige Sekunden, ob er die Länge des Bahntunnels falsch kalkuliert hatte, schüttelte dann aber vehement den Kopf. Mika der Betrüger verrechnete sich nicht, soviel war klar (nun gut, das eine Mal vielleicht, als er versehentlich die falsche Summe überwiesen hatte und deswegen verraten worden war) und er war sich absolut sicher, dass er noch gut drei Meilen vor sich hatte, bis er zum Wartungsraum kam, in dem Diana Zivilkleidung und einen neuen Pass hinterlegt hatte.
Nach kurzem Nachdenken kam er zum Entschluss, dass es sich wohl um ein vergessenes Notlicht handeln musste, trotzdem tastete er sich langsam an der schmierigen Wand des Tunnels voran und vermied es, so gut er es eben konnte, Geräusche zu machen. Ein Adrenalinschub ließ ihn vorerst vor Schreck erstarren, bevor er sich instinktiv flach auf den Boden warf, in der Hoffnung so trotz seines orangen Anzugs ungesehen mit der Dunkelheit zu verschmelzen, als er sah, dass sich der Lichtkegel bewegte.
Mit jeder Minute die verging, erschien ihm das Schwarz der steinernen Wände bedrückender, so als würde er durch eine nicht enden wollende, schwarze Nimbus-Wolke laufen, die drohte ihm die Luft zum atmen zu nehmen. Es war über ein Jahr her, dass Angelica nach der Schule nicht nach Hause gekommen war und die Polizei hatte ihm mehr als einmal erklärt, dass die Suche nach ihr aussichtslos wäre, zu lange war sie schon verschwunden und die Tatsache, dass keine Lösegeldforderung eingegangen war, deutete auf das Schlimmste hin. Doch Hans der Vater konnte nicht aufgeben, brauchte Gewissheit, um Absolution für sein Versagen zu erlangen und so verbrachte er unermüdlich jede wache Stunde damit, nach seinem Engel zu suchen. Wahrscheinlich hatte er selbst irgendwann die Hoffnung aufgegeben, denn die Nachricht war unerwartet gekommen und er hatte es kaum glauben können, als er den unscheinbaren Umschlag geöffnet und das Foto gesehen hatte.
Unwillkürlich ertastete er die Neunmillimeter, welche er sich in den Hosenbund geschoben hatte, als er das Gesicht des Mannes visualisierte, der seine Tochter verschleppt hatte. Hans der Vater unterdrückte den Würgereiz, der ihn seit jenem schicksalhaften Tag des Verschwindens begleitete, wann immer er sich ausmalte, was dieses Scheusal ihr wohl angetan haben mochte, bevor er entschlossen weiter in den Eisenbahntunnel schritt. Endlich, dachte er sich, endlich würde er die Chance zur Genugtuung erhalten und demjenigen gegenübertreten, der ihm den einzigen Lichtblick seines Lebens genommen hatte.
Seine Hände lagen zusammengefaltet und entspannt auf seinem Schoß, währendem er mit einem kaum sichtbaren Lächeln die Monitore des gut geheizten Überwachungsraums beobachtete. Alles war in die Wege geleitet und Paul das Mastermind war sehr zufrieden mit sich selbst und seinem Plan. Wie zu erwarten gewesen war, war Joe der Agent als erster eingetroffen und hatte sich streng nach Protokoll verhalten, so dass es für ihn ein Leichtes war, dessen nächste Handlung vorherzusehen. Als nächster taumelte Mika der Betrüger durch die langgezogene Steinhalle, die unter der Stadt verlief wie eine vertrocknete Schlagader, und er sah wirklich nicht sehr gut aus. Seine Schritte wirkten unkoordiniert und lahm, so als hätte die Krankheit einen Zombie aus dem einst jugendlich wirkenden Charmeur gemacht. Eine Weile lang war Paul das Mastermind sich nicht sicher gewesen, ob Mika der Betrüger überhaupt noch in der Lage sein würde seinen Teil im dem meisterlich inszenierten Schauspiel zu übernehmen, er hatte sogar eine Zweitbesetzung organisiert, aber angesichts dessen, dass das Virus bereits über drei Wochen Zeit gehabt hatte, seinen Körper zu schänden, schlug er sich gar nicht schlecht. Als letzter erschien Hans der Vater im Sichtfeld der Kameras und kündete damit den Beginn des finalen Aktes an. Bald schon, freute sich Paul das Mastermind, würde die Stadt endgültig ihm gehören und kurz darauf, da war er sich sicher, würde die Welt folgen.
Mika der Betrüger hielt sich im Schatten und versteckte sich in einer kleinen Felsaushöhlung, die als Deckung für Gleisarbeiter vor entgegenkommenden Zügen gedient hatte, als Hans der Vater mit bereits gezückter Waffe von der anderen Seite unbeirrt auf den verlassenen Bahnhof zumarschierte. Es dauerte erstaunlich lange, bis Joe der Agent sich mit ruhigen Bewegungen näherte und etwas zu dem Neuankömmling sagte – vermutlich eine weitere aus dem Handbuch rezitierte Drohung. Hans der Vater stand im richtigen Winkel zur Kamera, so dass Paul das Mastermind klar und deutlich seine Lippen lesen konnte, als er sagte: „Du hast meine Tochter genommen!“
Joe der Agent nickte, nicht wissend, dass sein Gegenüber ihn ihm genau die Person sah, deren Gesicht er dank dem Foto, welches Paul das Mastermind ihm zugesandt hatte, als den Entführer seiner Tochter erkannte. Der gute Vater zögerte nicht und traf für einen Arzt ohne Waffentraining bemerkenswert zielsicher den Hals von Joe des Agenten.
Paul das Mastermind grinste stumm und lehnte sich im knarrenden Holzstuhl zurück. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Mika der Betrüger, aufgescheucht vom hallenden Schuss, dessen Knall durch die einzigartige Architektur des alten Eisenbahntunnels scheinbar hinter ihm gefallen war, direkt in die Arme von Hans dem Vater rennen würde. Und sobald dieser die beiden Leichen verpackt und vergraben hatte, würde Hans der Vater das Virus in das Krankenhaus tragen, von wo es sich in alle Teile der Stadt verbreiten würde. Und damit wäre das diabolische Schauspiel zu guter Letzt endlich beendet.