Die unglaubliche Wohngemeinschaft

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Es ist saukalt“, bemerkte Kay lapidar und kickte einen Eisbrocken weg. Dieser segelte um sich selbst rotierend davon und verschwand am Horizont, ehe der junge Mann wieder in die gut beheizte Forschungsstation eintrat. „Bald werde ich diesen Ort sowas von satt haben.“
„Bis dahin dauert es aber sicher noch etwas“, murmelte die auf der Couch sitzende Cassandra abwesend, nur um einen Augenblick später von ihren Fußnägeln aufzusehen, die sie sich gerade lackiert hatte. „Verdammt, Kay, mach die Scheißtür zu, es zieht und ich bin barfuß!“
Der Angesprochene hatte keine Chance mehr, der Aufforderung Folge zu leisten, denn Delroy sah sich aus der Küche um, hob die Hand und die Tür schlug ohne eine Berührung hinter Kay zu. Dieser nahm das Geschehene mit einem Brummen zur Kenntnis und wandte sich stattdessen an Cassandra. „Echt, wieso lackierst du dir am Nordpol die Zehennägel? Ist ja nicht so, als würde das jemand sehen, oder?“
„Hallo?“, machte sie und deutete vielsagend auf die engen Hosen, die ihre trainierten Beine zur Geltung brachten. „Ich war vor einem Monat im Leggingsfachgeschäft, ich trage immer solche Dinger und gehe barfuß.“
„Ja, aber nur drin und da sind nur wir vier, wen willst du beeindrucken?“
„Leute, bitte“, unterbrach Gemma die Diskussion und sah von ihrem Laptop auf. „Es war so friedlich hier, bevor ihr aufgetaucht seid!“ Sie zog sich kurz die Brille aus und massierte die Nasenwurzel. „Irgendwann die Tage werde ich den Befehl eintippen, euch alle umzubringen.“
Kay gluckste, an das ewige Genörgel der für ihn autistisch anmutenden Misanthropin hatte er sich längst gewöhnt. „Du bist doch nur eifersüchtig, weil du als Einzige die ganze Zeit hier herumsitzt, statt die Welt zu sehen.“
„Ich bin hierhergekommen, weil ich die Welt eben gerade nicht sehen, sondern meine Ruhe haben wollte.“ Gemma verdrehte die Augen und fügte dann betont und sehr langsam hinzu: „Vor Leuten.“ Damit widmete sie sich wieder ihrem Computer und schien die Welt um sich herum auszublenden.
„Hot Pockets sind fertig“, rief Delroy aus der Küche, warf einen großen Teller ins Wohnzimmer und ließ ihn dann mit einer eleganten Bewegung seiner Hand auf den Tisch herunterschweben, wo er wie ein landendes UFO aufsetzte. Mit einem großen Sprung landete er selbst wesentlich weniger geschickt neben Cassandra auf der Couch, was diese mit einem genervten Geräusch quittierte. „Wo ist die Fernbedienung?“
„Meh“, machte Cassandra schulterzuckend und sah sich demotiviert um. „Kein Plan.“
„Hier läuft sowieso nichts Gutes im Fernsehen“, meinte Kay. „Manchmal vermisse ich die alte Welt.“
Cassandra zuckte wieder mit den Schultern – sehr viele Gesten beinhaltete ihr Repertoire nicht. „Die haben sie hochgejagt, hinterhertrauern hilft da auch nichts mehr. Futsch ist futsch.“
„Cassy, das war die Erde – wir haben da gelebt!“, tadelte sie Delroy halbherzig, widmete sich dann aber sofort seinem Essen.
„Na und? Jetzt liegen wir auf irgendeiner Raumstation in einem Biotank, sind an eine Simulation angeschossen und haben eine bessere Erde. Was gibt es daran auszusetzen? Immerhin haben wir hier Superkräfte.“
„Zumindest drei von uns“, stichelte Kay mit einem bedeutsamen Blick zu Gemma, die jedoch gar nicht zuzuhören schien. Es war einfach nicht lustig, sie zu ärgern, wenn sie es nicht bemerkte. Delroy musste zwar sofort lachen, hob jedoch gleichzeitig mahnend einen Finger. „Du solltest Gott nicht anpissen, wer weiß, was sie dann macht!“
„Na schön.“ Kay griff sich nun auch einen der Hot Pockets vom Tisch, ließ sich aber einen letzten Seitenhieb nicht nehmen. „Gott könnte aber echt mal wieder die Haare waschen oder etwas gegen ihre Augenringe tun.“
Verwirrt sah Gemma auf. „Wer ist Gott?“ Es dauerte etwa drei Sekunden, bis sie begriff und trocken hinzufügte: „Haha, sehr witzig.“ Sie stellte den Laptop zur Seite und griff nach dem Fast Food. Gierig schlang sie drei der Hot Pockets herunter, während Kay noch immer nach der Fernbedienung suchte. Delroy zog die Brauen hoch und fragte: „Wann hast du das letzte Mal gegessen?“
Gemma fuhr sich mit den fettigen Fingern durchs Haar und wischte sie an ihren Trainerhosen ab. Dann entgegnete sie zerstreut, während sie schon wieder nach dem Laptop griff: „Keine Ahnung, gestern?“
„Geh wenigstens duschen, langsam wird es echt eklig – bitte!“, wetterte Cassandra, ehe die andere wieder ganz in ihrer digitalen Welt versinken konnte. Gemma hob den Kopf und funkelte sie an. Doch statt direkt auf die Stichelei zu antworten, stellte sie den Computer beiseite und begann, die Stimmen ihrer Mitbewohner nachzuäffen: „Klar. ‚Gemma, gib uns Superkräfte, wir wollen die Welt verändern!‘ Und nicht zu vergessen: ‚Wir können auch gleich bei dir einziehen, eine die am Nordpol lebt, braucht sicher Gesellschaft und wo sollen Superhelden sonst so stilecht wohnen?‘“ Delroy setzte dazu an, etwas zu sagen, doch Gemma war noch nicht fertig mit ihrer Tirade. „‚Verdammt Gemma, beweg dich mal, du starrst nur auf den Bildschirm!‘ Ach ja, genau“, funkelte sie Kay an, „‚Danke Gemma, ohne dich würde ich noch immer beim Fahrradverleih arbeiten, jetzt kann ich was für die Gerechtigkeit tun – aber musst du immer so asozial sein?‘“ Sie schnaubte, stand auf und verschwand dann mit dem Laptop unter dem Arm im Badezimmer. Cassandra sah ihr nur mit offenem Mund hinterher und es war Delroy, der als erstes seine Sprache wiederfand und zu Grinsen begann. „Verdammt, hat die hochintelligente Frau, die als erste die ganze Simulation gehackt hat, tatsächlich gerade rumgezickt?“
Kay kicherte. „Du hast Recht. Mach sie einfach nicht zu wütend, sonst wirst du dir noch wünschen, dass du sie nie getroffen hast.“
„Naja, früher oder später würden wir schon wieder jemanden finden, der Admin-Rechte für die Erde 2.0 hat und bereit ist, uns Superhelden sein zu lassen“, meinte Cassandra. „Aber es ist ziemlich nett, dass sie uns in ihrem Haus wohnen lässt.“
„Eigentlich hat sie ja nie wirklich ‚ja‘ gesagt, wir sind einfach eingezogen“, entgegnete Delroy. „Aber wenigstens putzen wir auch und erledigen Besorgungen.“
„Apropos …“ Cassandra sprang motiviert auf. „Ich wische mal. Delroy, kannst du mir den Besen holen?“
Der Angesprochene machte eine Handbewegung und der Besen flog quer durchs Zimmer, sodass Cassandra ihn auffangen konnte. Dann fegte sie mit einer Geschwindigkeit durch den Raum, die man mit dem menschlichen Auge kaum mehr wahrnehmen konnte und wehte dabei Delroys Haare in dessen Gesicht. Nach einigen Sekunden kam sie wieder zum Stehen und erklärte stolz: „So, Hausarbeit ist erledigt!“
Kay unterdrückte den Lachanfall nur mit Mühe, während er auf Cassandra deutete und so beiläufig wie möglich sagte: „Schön. Aber dein Besen brennt.“
„Scheiße, nimm das Ding weg!“, rief Cassandra panisch, warf den Besen reflexartig Kay zu, der ihn auffing und damit zur Tür rannte. Er riss sie auf und schleuderte ihn so weit davon, wie er konnte, bevor er sich umwandte: „So, erledigt. Aber bei deiner Geschwindigkeit solltest du Gemma echt fragen, ob sie was gegen die Reibungshitze tun kann.“
„Gute Idee.“ Cassandra sah zur geschlossenen Badezimmertür: „Gemma!“
Die Gerufene kam nackt, pitschnass und den offenbar wasserfesten Laptop haltend aus dem Bad, sah Cassandras geweitete Augen und verstellte ihre Stimme eine Oktave höher, um ihre Reaktion vorwegzunehmen. „Ach ja, genau: ‚Gemma, trockne dich ab und zieh dir was an, IBM baut keine Feigenblätter!‘“ Damit machte sie kehrt und schlug die Badezimmertür hinter sich zu.
„Was war das jetzt?“, murmelte Delroy verwirrt, schüttelte dann aber den Kopf und wechselte das Thema: „Offenbar müssen wir einen neuen Besen kaufen gehen. Cassandra, was hältst du davon, gleich in Peking zu Abend zu essen?“
„Klar, wieso nicht?“ Sie prüfte rasch eine App auf ihrem Smartphone. „Da muss ich mich nicht mal umziehen, da ist es warm.“
„Na, dann mal los!“, skandierte Delroy freudig und gesellte sich zu den dreien. „Schaffen wir die Strecke in unter drei Minuten?“
Cassandra überlegte. „Ich hab’s schon mal gemacht, aber ich habe Geschwindigkeit auch am meisten trainiert. Was ihr drauf habt, kann ich nicht beurteilen.“
„Na, dann sehen wir mal, wie schnell wir sind“, meinte Kay vorfreudig und trat aus dem Haus, während seine Freunde ihm folgten. Delroy schloss den Eingang hinter sich: „Hey, ich muss es mal wieder sagen: Wir leben in einer Superhelden-WG am Nordpol, wie cool ist das denn?“
Die Antwort der anderen war nicht mehr zu vernehmen, nur noch ein Rauschen, als sie davonrasten.
Es dauerte kaum eine halbe Minute, bis Gemma, diesmal frisch angezogen, aus dem Badezimmer tapste und sich verwirrt umsah. „Leute …? Hallo?“ Sie kniff die Lider zusammen, konnte aber nichts erkennen, bis sie ihre Brille aufsetzte und seufzte dann. „Sie sind wieder weg – natürlich. Und wer muss den Tisch abräumen?“ Mit einem indignierten Grummeln schlurfte Gemma zum Tisch, stellte die Teller weg und ließ sich dann faul auf die Couch fallen. „Wieso musste die Menschheit auch nur die Erde hochjagen?“, murrte sie, streckte sich und unterdrückte den kurzen Anflug von einem Lächeln, bevor sie die Augen schloss und eindöste. Nein, sie würde nie offen zugeben, dass es ihr in der Superhelden-WG eigentlich ganz gut gefiel, man hatte ja seine Prinzipien. Und die neue Welt war auch besser als die reale, schon rein, weil sie hier die Admin-Rechte hatte.

Autorin: Sarah
Setting: Nordpol
Clues: Leggingsfachgeschäft, Fahrradverleih, Fernbedienung, Couch, Besen
Für Setting und Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei Petra Arentzen. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

6 Gedanken zu „Die unglaubliche Wohngemeinschaft“

  1. Ich hab‘ auch eine Weile gebraucht, um dahinterzukommen. Aber der echte Brüller war der brennende Besen!
    Ich habe mich übrigens beim Bewerten vertan: Es sollten alles in allem 5 Bleistifte werden! Böse unscharfe Pixel! Könnt ihr das ggf. Korrigieren?

    1. Hallo lieber Mathias,
      Bei dem Besen habe ich mich offen gestanden auch ziemlich ins Fäustchen gelacht, doch ja, auch Superhelden haben ihre Alltagsprobleme ;)

      Zu deiner Frage: Wir können die Bewertungen unserer Leser leider nicht bearbeiten, aber wenn du nochmal eine Bewertung abgibst, sollte es die vorherige ersetzen (sofern du Cookies verwendest, denke ich). Aber der eine Stern, pardon, Bleistift ist ja auch nicht dramatisch;) Danke fübrigens fürs Bewerten und Kommentieren:)

      Für die Clue Writer verneigt sich und grüsst
      Sarah

    1. Hallo liebe Lexa,

      Vielen Dank für die Blumen! Ich muss dir aber jetzt etwas gestehen, wie genau ich auf die Ideen komme, weiss ich meist selbst nicht. Ich starre einfach die Vorgaben so lange an, bis mir etwas einfällt, in das alles reinpasst. Und rgendwie hatte ich schon lange mal den Wunsch, die Erde hochzujagen – dank den Vorshclägen der Frau Arentzen hatte ich nun eine Gelegenheit, dieses finstere Vorhaben in die Tat umzusetzen ;)

      Vielen Dank auch für deinen Vorschlag und deine Einladung – wirklich eine super Idee! Leider haben wir in den nächsten Monaten schon alle unsere Slots für Beiträge verplant und können deswegen schlecht bei Aktionen mitmachen. Aber, und das ist die gute Nachricht, wir haben bereits einmal etwas in der Art (wenn auch nicht genau dasselbe) gemacht: Wenn du auf der unten verlinken Autorenseite bis ganz zum Ende scrollst, siehst du unsere „Fragen & Antworten“:
      https://www.cluewriting.de/projekt/autoren/
      Wir behalten aber deinen Vorschlag gerne im Hinterkopf, denn früher oder später werden wir sicher mal wieder Platz für einen News-Beitrag haben! :)

      Für die Clue Writer verneigt sich und grüsst,
      die Sarah

  2. Die Welt zerstört, alle matrixmäßig in einer virtuellen Simulation gefangen, die natürlich gehackt wird … ich muss sagen, ich hab ein Weilchen gebraucht, bis ich dahintergestiegen bin. Mein erster Gedanke zum Thema Nordpol war ja, dass die sicher auf einer Art Forschungsstation oder so sind – wobei mich das Leggingsfachgeschäft am Nordpol dann doch sehr irritiert hat ^^
    Toller Text, vor allem der Hickhack der vier ist gelungen! :)

    1. Hallo,
      Es freut mich, dass dir der Hickhack gefallen hat, ich hatte da echt meinen Spass beim Schreiben der Streitereien. ;)
      Ja, dank dem Legginsfachgeschäft bin ich überhaupt erst auf diese Idee gekommen, wahrscheinlich hätte ich sonst eine ziemlich klassische Story geschrieben – aber das ist ja gerade das Lustige an den Clue-Vorgaben, man kommt mmer wieder auf neue Ideen :)
      Vielen Dank für Feedback!
      Für die Clue Writer grüsst,
      Sarah

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