Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Karl Hubert von Zausenstein hockte zusammen mit Herr Herbert auf einer hellblauen Decke und zählte an seinen Fingern die Anzahl Spinnweben ab, die er von seinem Platz im Halbdunkel ausmachen konnte. Wie üblich glaubte seine Mutter, er höre sie nicht, meinte, sein Verstand sei ohnehin unfähig, die Situation zu erfassen. Sie täuschte sich, denn Karl Hubert Zausenstein hatte keinerlei Zweifel daran, was im Wohnzimmer vor sich ging.
Sein Stofftier unter den Armen hochhebend deutete er auf eine besonders fette Spinne und gerade als er Herberts Knopfnase unsanft gegen den ausgetrockneten Achtbeiner stieß, donnerte es hinter der Wand: „Nein! Wie konnte er mir das antun?!“
Herbert das Murmeltier fand das alles gar nicht so tragisch, aber Herberts Sinn für Tragik war selten verlässlich, schließlich fiel es ihm mit seinem Plüschkopf schwer, solche Dinge korrekt einzuschätzen. Das dachte fast jeder auch von Karl Hubert, manchmal zu recht, oft zu unrecht. Sicher, seinem Gehirn fehlte die eine oder andere Windung, dafür hatte es einige, die man bei den meisten vergeblich suchte. Wahrscheinlich lag es an diesen zusätzlichen Abbiegungen in seinem Schädel, dass er es schon länger hatte kommen sehen. Die stoische Ruhe seines gestopften Freundes genießend, drückte Karl Hubert den Murmel an seine Brust und versuchte, eine Träne zu vergießen. Irgendwie kam es ihm richtig vor, zu weinen, doch es gelang ihm nicht, also blieben seine Augen genauso trocken wie Herberts.
„Verfluchte Scheiße!“, dröhnte es durch das winzige Geheimzimmer, das verborgen hinter einer Luke in der Garage lag. „Ich kann das nicht!“ Die Mutter klang aufgelöst, ihr Kreischen war vielmehr ein gellendes Jaulen, anders als das wütende Gekeife, das er sonst von ihr kannte. Karl Hubert nahm es ihr nicht übel, generell nahm er ihr nie etwas übel, immerhin war sie seine Mami, selbst wenn sie häufig ihre Nerven verlor. Einen Sohn wie ihn zu haben, sei eine große Last, sagte sie, wenn sie mal wieder überzeugt war, er wäre nicht nur dumm sondern ebenfalls taub. Trotzdem achtete sie gut auf ihn, schützte ihn vor bösen Leuten und schwierigen Worten wie ‚Entwicklungsstörung‘, ‚dissoziierte Intelligenz‘, ‚Scheidung‘ oder ‚Katzenhaar-Allergie‘. Sie machte das, weil sie ihn lieb hatte und er schätzte diese Geste, obschon er natürlich begriff: Alle schwierigen Worte bedeuteten eigentlich dasselbe, nämlich ‚Nein‘. Nein, du kannst nicht mit deiner Schwester in den Kindergarten, nein, der Film ist nichts für dich, nein, Papi liest dir keine Gutenachtgeschichten vor und nein, du bekommst kein Kätzchen.
Karl Hubert legte seinen Stofffreund sachte auf der Decke ab und kroch in Richtung des Bücherstapels, um Papis Lieblingsheft hervorzuholen. Darin gab es hunderte Bilder, allerdings völlig andere als in Mamas bunten Kinderbüchern. Nachdenklich blätterte er zur besten Seite, auf welcher der Elfenkrieger im Mondschein auf seinem Wolf durch die Wüste ritt. Das war der Moment vor dem Sturm, der letzte friedliche Augenblick, bevor die Welt der Elfen im Chaos versank und Karl Hubert schien die Illustration passend für den heutigen Abend.
Er spielte gerne Verstecken in seinem Geheimzimmer, hier waren seine liebsten Sachen, Zeitungen, Bücher und eine Kamera, mit der er Fotos von Insekten und Wollmäusen machte. Er übte das Fotografieren oft weil sein Vater ihm versprochen hatte, eines Tages ginge er mit ihm fort, um in der Wildnis Bilder zu schießen. Papi sprach viel über die Reise, berichtete von Australien, Schottland, Myanmar und dem Kongo, als wären sie schon dort gewesen. In Wahrheit waren sie kaum je aus ihrem Dorf gekommen.
Karl Hubert nieste verhalten, es war staubig in seiner Kammer seit er der einzige war, der von ihr wusste. Sein Vater hatte ihm die kleine Nische gezeigt und ihm erlaubt, dort seine Schätze aufzubewahren, von denen die Mutter nichts erfahren durfte. Diese gestattete ihm weder Zeitungen noch Hefte und Bücher für Erwachsene, erst recht keine zerbrechlichen Apparate, denn ihrer Meinung nach musste er auf ewig ein Kind bleiben und Kindern erzählte man keine Geschichten über den Krieg, Sex oder gefährliche Menschen. Da blieb die Mutter streng, wohingegen der Vater sagte: „In Moderation wird es nicht schaden.“
‚Moderation‘ war auch so ein Wort, das im Prinzip ‚nein‘ hieß. Nein, du musst jetzt zurück ins Haus, ehe Mami heimkommt und dein Geheimzimmer findet. Statt ihn von schwierigen Worten fernzuhalten, erklärte sie sein Vater, von ihm hatte Karl Hubert eine ganze Menge solcher Worte gelernt, außer ein ganz wichtiges: ‚Selbstmord‘. ‚Selbstmord‘, das war ein neues Wort für Karl Hubert, auch Herbert war es ungeläufig, aber wie immer hieß es einfach ‚Nein‘. Nein, du wirst Papi niemals wiedersehen.
„Karl Hubert, wo steckst du?“, brüllte die Mutter verzweifelt bis die Wand zum Wohnzimmer wackelte und Karl Hubert probierte erneut eine Träne aus seinem Augenwinkel zu pressen.